Den folgenden Vortrag hielt ich im Juli 2002 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik in Berlin. Zum Ausdrucken können Sie auch eine PDF-Version herunterladen (33 kB).


 

Kunst und Subjekt

Dr. phil. Alexander Piecha
Bürgermeister-Steinkamp-Str. 9
49565 Bramsche-Engter
Tel.: +49 (0) 54 68 - 93 90 64
Email: mail@apiecha.de
Internetgalerie: http://www.apiecha.de

Im folgenden sollen die Bezüge zwischen Kunst, Welt und Subjekt untersucht werden. Dabei steht die Frage nach etwaigen Besonderheiten des Subjektbezuges unserer rezipierenden, kritisierenden oder produzierenden Auseinandersetzung mit Kunst im Mittelpunkt.

Was hat dieses Kunstwerk mit mir zu tun, so fragen sich viele Passanten angesichts von Kunstwerken im öffentlichen Raum, aber auch manch ein Museums- oder Galeriebesucher, der sich mit Kunst der Gegenwart konfrontiert sieht. Diese Frage leichthin als Folge von Banausentum abzuwerten, wäre mit Sicherheit ein Fehler. Sie besteht zu Recht, und damit stehen wir als Theoretiker wie Praktiker in der Pflicht eine Antwort zu finden.

Oftmals werden in Veröffentlichungen zur Ästhetik die Gemeinsamkeiten und die Gleichwertigkeit künstlerischer und wissenschaftlicher Weltsichten betont.1 Die Basis hierfür ist meist ein jeweils unterschiedlich gelagerter wissenschaftstheoretischer Relativismus.2 Diesem zufolge ist jede Form von Erkenntnis immer an den Erkenntnissapparat des Erkennenden und die zugrunde liegenden Theorien gebunden. Je nach Ausprägung wird dabei der Begriff der Theorie so weit gefasst, dass selbst Sprache darunter fällt und in der Tat ist die Art und Weise, wie wir unsere Wahrnehmungen gliedern, abhängig von den Begriffen, die uns zur Verfügung stehen; seien sie theoretischer oder normalsprachlicher Natur. Jedes Urteil, das wir fällen, jede Erkenntnis, die wir gewinnen, ist somit zwangsläufig hypothetisch und die Welt, in der wir leben, unser eigenes Konstrukt.

Aus philosophischer Hinsicht kommt hinzu, dass die Semantik moderner Welten es heute ohne weiteres erlaubt, auch Werturteilen Wahrheitswerte zuzuweisen. Werturteile sind damit genauso wahr oder falsch wie Zuschreibungen rein empirischer Prädikate z. B. in den Wissenschaften.3

Die resultierende Ansicht der kognitiven Gleichwertigkeit künstlerischer und wissenschaftlicher Weltbezüge hat gewiss vieles für sich, und es liegt mir fern, sie in Frage zu stellen. Sie hat aber zur Folge, dass einige wichtige Unterschiede zwischen ästhetischen Urteilen und wissenschaftlichen Hypothesen allzu leicht aus dem Blick geraten. Darum soll das Augenmerk der folgenden Argumentation auf die Frage gerichtet sein, ob und inwieweit sich der Subjektbezug künstlerischer Weltsichtweisen sich von demjenigen wissenschaftlicher oder alltäglicher unterscheidet. Gleichwertigkeit bedeutet schließlich nicht automatisch Gleichheit.4


Wo aber soll man ansetzen? Ein vielleicht zunächst befremdlicher Exkurs in die Gefilde der Neurophysiologie kann hier weiterhelfen: Aus der Theorie der somatischen Marker des amerikanischen Neurologen Antonio Damasio lässt sich nämlich eine neue oder zumindest auf neue Weise fundierte Sicht ästhetischer und künstlerischer Erfahrung gewinnen.5

Ohne den Leser mit neurologischen oder gar hirnanatomischen Details langweilen zu wollen, lässt sich diese Theorie der somatischen Marker wie folgt zusammenfassen: Wie umfangreiche Studien mit Patienten, die an Schädigungen bestimmter Areale des Gehirns leiden, gezeigt haben, ist rationales Verhalten im Alltag nur bei intaktem emotionalem Apparat möglich. Intakter Intellekt und sogar vollständig erhaltenes soziales Wissen reichen nicht aus, müssen wir uns in den komplexen Situationen des Alltages adäquat und angemessen schnell entscheiden. Die kognitive Funktion der Emotionen besteht dieser empirisch gut gesicherten Theorie nach außer in der Motivation und der Aufmerksamssteuerung darin, dass sie jede Wahrnehmung noch vor ihrer Bewusstwerdung hinsichtlich ihrer Relevanz bewerten. Abgesehen von angeborenen Reaktionsschemata speichert unser Gedächtnis die Dinge, an die wir uns später erinnern, nicht in Form abstrakter Daten, sondern immer zusammen mit der Erinnerung an unsere körperliche und die damit unmittelbar verbundene emotionale Reaktion.

Ein jeder stand wohl schon mal dicht an einem Gleis als ein Zug durchfuhr - ruft man sich ein solches Ereignis ins Gedächtnis zurück, so bilden die erinnerten Tatsachen mit den oben erwähnten Reaktionen eine Einheit. Steht man nun vor einer Entscheidung und spielt mögliche Szenarien durch, so werden diese aufgrund gemachter und dergestalt gespeicherter Erfahrungen emotional bewertet. Das hat zur Folge, dass wir nicht gemäß den Spielregeln der Entscheidungstheorie, jede verfügbare Handlungsalternative und alle möglichen Handlungsumstände auf ihre Folgen hin befragen und diese Folgen dann noch bewerten und gegeneinander abwägen müssen. Unsere emotionale Reaktion, das Kribbeln im Nacken, das flaue Etwas im Bauch oder das gute Gefühl plötzlicher Überzeugung ermöglichen es uns, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung ist mit Sicherheit nicht immer die beste, manchmal mag sie sogar verheerend ausfallen, aber im allgemeinen ist sie in Ordnung - dafür spricht der Erfolg, mit dem sich unsere Spezies bislang im Prozess der Evolution bewährt hat. Diese Theorie will ausdrücklich nicht die Rationalität und den Intellekt diskreditieren. Statt dessen erklärt sie, warum rein rationale Systeme in komplexen Umgebungen nicht überlebensfähig sind: Unsere Rationalität baut auf evolutionär älteren Systemen auf, d. h. unser rationaler Entscheidungsapparat sitzt sozusagen huckepack auf unserem emotionalen System.

Ebenso wie im Falle bloß vorgestellter Situationen liefern uns auch im Falle aktueller Wahrnehmungen unsere Emotionen durch ihre auf angeborenen wie in der Erfahrung erworbenen Kriterien beruhende Bewertung unseres sensorischen Inputs zusätzliche lebensnotwendige Informationen. Auf diese Weise passen wir die unsere Wahrnehmungshypothesen über die Welt unserer individuellen Erfahrung, unseren jeweiligen Lebensumständen an. Jeder wahrgenommene Gegenstand ist somit immer schon ein bewerteter. Somit nehmen wir die Dinge unserer jeweiligen Welt immer schon als ausdruckshaft wahr und diese Wahrnehmung des Ausdrucks ist elementar, d. h. vor aller rationalen Analyse. Wir sehen den Ausdruck eines Gesichtes meist unmittelbar und müssen ihn nicht aus den Gesichtszügen unseres Gegenübers erraten. Im Gegenteil werden die meisten von uns große Schwierigkeiten haben anzugeben, was ein wirklich freundliches von einem vorgetäuschten Lächeln unterscheidet.


Ich möchte nun vorschlagen ästhetische Erfahrung als ein bewusstes Erleben dieser im Alltag meist nur unbewusst wirksamen Werthaftigkeit der Wahrnehmungsgegenstände zu begreifen.6 Ästhetische Erfahrung ist in diesem Sinne eine Form des Erlebens, bei dem die Emotionen des Erlebenden ebenso wie seine Körperlichkeit und sein Handeln eine konstitutive Rolle spielen. Damit ist die ästhetische Erfahrung in besonderer Weise an das jeweilige Subjekt und dessen Erfahrungen, sein Wissen, seine Erwartungen und seine grundsätzlichen Wertdispositionen gebunden. Diese Position ist durchaus vereinbar mit der Tatsache, dass ästhetische Werturteile wahrheitsdefinit sind. Selbst wenn wir Wahrheit als Korrespondenz mit den Tatsachen auffassen, ist damit keinesfalls ausgeschlossen, dass gewisse wahrheitsfundierende Tatsachen nicht intersubjektiv zugänglich sind. Dieses Verständnis ästhetischer Erfahrung umschifft manche der Klippen, die traditionelleren Auffassungen Schwierigkeiten bereiten, die meist meist in Anknüpfung an Kant ästhetische Erfahrung meist als Konzentration auf die sinnliche Erscheinungsweise eines Gegenstandes um seiner selbst willen betrachten.7

  1. Ästhetische Erfahrung bezieht sich aber nicht nur auf Wahrnehmungen, sondern auch auf Vorstellungen. Die hier vorgeschlagene ästhetische Erfahrung beim Lesen eines Romans erschöpft sich dementsprechend nicht in der kontemplativen Versenkung in die Schrifttype und das Seitenlayout.
  2. Eine ästhetische Erfahrung, wie sie hier entworfen wurde, ist auf einer subjektiven Ebene kognitiv relevant. Es handelt sich weder um reine "Gefühlsduselei" noch werden in emphatischer Weise Unterschiede zu anderen Formen der Erkenntnis nivelliert. Sie ist eine Erkenntnisquelle, die stark an die Situation und die Person des Erkennenden gebunden ist. Dennoch ist sie nicht unproblematisch für den Erfahrenden, d. h. Irrtum ist möglich.
  3. Unser Wissen und unsere Erwartungen beeinflussen unsere ästhetische Erfahrung. Das Wissen um einen Unterschied macht bereits einen ästhetischen Unterschied aus.8 Dieses evidente Sachverhalt ist kein Problem reduziert man ästhetische Erfahrung nicht auf aktuelle sinnliche Wahrnehmung.
  4. Ästhetische Erfahrung im hier vorgeschlagenen Sinne wird sowohl unserem Umgang mit Kunstwerken als auch unserem alltäglichen ästhetischen Erleben gerecht, wohingegen traditionelle Konzeptionen zwischen Kunstwerken und ästhetischen Objekten einerseits sowie zwischen den ästhetischen und den nicht ästhetischen Aspekten von Kunstwerken andererseits differenzieren müssen, was oft zu einer Vielzahl zu unterscheidender Erfahrungentypen führt.9
  5. Die Ausdruckshaftigkeit wahrgenommener Gegenstände ist zwar Projektion des Erlebenden, aber ebenso unmittelbarer Bestandteil der Dinge unserer phänomenalen Welt.

Interessanterweise vereitelt gerade die u. a. von Lüdeking diagnostizierte Tatsache, dass der Begriff des Kunstwerkes ein Wertbegriff ist, bislang alle Versuche, den Kunstbegriff intersubjektiv zu definieren.10 Die Klasse der Kunstwerke ist für jeden von uns unterschiedlich zusammengesetzt, da die grundlegenden Wertdispositionen nicht frei wählbar sind. Sie entstehen in der jeweiligen individuellen Entwicklung. Jeder Versuch, die Klasse der Kunstwerke allgemein verbindlich und vorgeblich nicht wertend festzulegen, steht vor dem Dilemma, in entweder einer zu weiten oder zu engen Bestimmung zu münden. Im ersten Fall versucht der betreffende Kunsttheoretiker dem Umstand Rechnung zu tragen, dass heutzutage grundsätzlich jeder Gegenstand ein Kunstwerk sein kann. Sein Problem ist allerdings, dass sein Kunstbegriff nicht mehr zwischen Kunstwerken und Nichtkunstwerken unterscheiden kann und damit wertlos ist. Im zweiten Fall erhebt der Autor unter der Hand seine eigenen Wertdispositionen zu objektiven Massstäben. Die Folge davon ist, dass viele wichtige Kunstwerke aus dieser Definition herausfallen.


Nun kann diese Einsicht heraus leicht in der für viele sicher deprimierenden Feststellung münden, dass gefälligst jeder mit sich privat abmachen muss, was für ihn Kunst ist und es darüber hinaus keinen Sinn macht, weiter über Kunst nachzudenken.

Einen Ausweg aus dieser lähmenden Situation weisen Goodmans oft zitierte Überlegungen in den Sprachen der Kunst, die es erlauben, das Phänomen der Kunst und des künstlerischen Weltbezuges auf andere Weise näher zu bestimmen, als durch die Analyse der materialen Gegenstände.11 Im folgenden seien nur kurz die für den weiteren Argumentationsgang wichtigsten Aspekte der Goodmanschen Theorie dargestellt: Goodman begreift Kunstwerke als Symbole und untersucht ihre Funktionsweise als solche im Rahmen einer umfassenden Symboltheorie. Er fragt nicht, was Kunst ist, sondern wann etwas Kunst ist, d. h. welche Verwendungsweise eines Gegenstandes als Symbol ihm den Status des Kunstwerkes verleiht.

Roy Lichtensteins "Pinselstrich"-Gemälde "Big White Brushstroke" ist in den späten sechziger Jahren unseres Jahrhunderts entstanden und als Antwort des Pop-Art-Pioniers auf den Abstrakten Expressionismus und dessen Ideologie zu verstehen. Erst wenn man diesen Gesichtspunkt bei der Interpretation berücksichtigt, erschließt sich die Bedeutung dieser Arbeit vollständig. Lichtenstein verdiente nämlich bis über sein dreißigstes Lebensjahr hinaus seinen Unterhalt als Kunsterzieher, während er gleichzeitig mehr oder weniger vergeblich versuchte, gemäß der zu dieser Zeit in den USA absolut dominanten Auffassung von Kunst abstrakt-expressiv zu malen. Für den abstrakten Expressionisten durften Bilder nichts Gegenständliches darstellen, sondern lediglich durch einen gestischen Automatismus die unbewußte Befindlichkeit des Künstlers zum Ausdruck bringen - eine maßgeblich von der surrealistischen "écriture automatique" beeinflußte Vorgehensweise. Farbe sollte nichts anders sein als eben Farbe und ein Pinselstrich nichts als ein Pinselstrich. Diese Stilrichtung der amerikanischen Nachkriegskunst hatte ohne Zweifel stark metaphysische Hintergründe und dabei einen häufig elitären Anspruch. Auf Bitten seiner Kinder malte Lichtenstein eines Tages einige großformatige Bilder von populären Comic-Figuren. Erst im Nachhinein wurde ihm die künstlerische Qualität dieser Arbeiten deutlich. Mit ihnen begründete er die Pop-Art, die genau die Banalitäten des Alltags in den Brennpunkt ihres Interesses rückte, die zwar unsere visuelle Umgebung prägen, die aber im Abstrakten Expressionismus nie hätten thematisiert werden können. Vor diesem Hintergrund kann die hier abgebildete Arbeit Lichtensteins als ein ironischer Kommentar zu dieser Stilrichtung verstanden werden. Sie macht u. a. auf den Warencharakter und die Konsumierbarkeit abstrakt-expressiver Bilder aufmerksam, die zu einem festen Bestandteil der zumindest in den Kreisen der Kunstkenner "populären" Kultur geworden waren.12


Das Ergebnis der Goodmanschen Überlegungen sind fünf Symptome13 im Sinne von Indizien. Damit ist gemeint, dass ihr Vorliegen zwar dafür spricht, dass es sich bei einem Symbolsystem um ein künstlerisches handelt, aber diese Schlussfolgerung ist nicht zwingend: Indizien sind keine notwendigen oder hinreichenden Kriterien. Goodmans Symptome sind syntaktische und semantische Dichte, relative Fülle, Exemplifikation und multiple und komplexe Bezugnahme. Was damit gemeint ist, kann am besten durch ein Beispiel erläutert werden. Vergleichen wir ein künstlerisches Bild mit einem digitalen Fieberthermometer: Letzteres gibt eine Reihe von punktuellen Messwerten mit einer klar zu unterscheidenden endlichen Anzahl von Zeichen wieder. Ein künstlerisches Bild besteht dagegen nicht aus einer klar definierten Anzahl von zu beachtenden Zeichen. Zwar gibt es auch hier Aspekte, die für seinen Symbolgehalt nicht von Bedeutung sind, wie bspw. die Bildrückseite, aber grundsätzlich ist fast jeder Bestandteil zu berücksichtigen. Darüber hinaus konstituiert jeder Unterschied in der Zeichengestalt ein unterschiedliches Zeichen, während das Digitalthermometer mittels klar differenzierter und unterscheidbarer Zeichen funktioniert: Werke der bildenden Kunst sind eben nicht syntaktisch dicht. Semantische Dichte dagegen bedeutet, dass für jeden noch so kleinen Bedeutungsunterschied auch ein Symbol verfügbar ist - während es bei dem digitalen Fieberthermometer eine kleinste relevante Temparaturdifferenz gibt. Bei letzterem interessiert uns, die korrekte Verwendung und eine einwandfreie Funktion vorausgesetzt im allgemeinen auch nur der Inhalt der Anzeige. Die Farbe des Gerätes, sein Design, die Typografie der verwendeten Schriftzeichen, all das ist nebensächlich. Kunstwerke weisen dagegen in diesem Sinne das Symptom der relativen Fülle auf; viele Aspekte sind zu berücksichtigen und in den meisten Fällen sind diese Apektdimensionen nicht klar differenziert sondern selbst wiederum syntaktisch und semantisch dicht. Exemplifikation nun ist, etwas vereinfacht gesagt, nach Goodman das Gegenteil von Denotation.14 Während der Begriff "Digitalthermometer" digitale Fieberthermometer denotiert, kann ein konkretes digitales Fieberthermometer als Probe dazu dienen, diesen Begriff (aber selbstverständlich auch andere wie medizinisches Gerät, Messgerät, LED-Anzeige, Thermometer u. v. a. m.) zu exemplifizieren. Exemplifikation ist nun eine häufige Weise der Bezugnahme bei Kunstwerken, da Goodman Ausdruck als metaphorische Exemplifikation (oder besser als Exemplifikation von metaphorisch bessenen Eigenschaften) analysiert. So kann eine Neonröhre metaphorisch die Eigenschaft der Kälte bei Licht oder ein graues Bild metaphorisch die Eigenschaft der Traurigkeit exemplifizieren.

Wichtig ist es sich dabei vor Augen zu halten, dass diese Symptome keine Eigenschaften des materialen Gegenstandes "Kunstwerk" sind, sondern ihm nur bei entsprechender Verwendung als Symbol in einem künstlerischen Zusammenhang zukommen. Selbstverständlich kann auch ein Digitalthermometer ein Kunstwerk oder Bestandteil eines solchen sein. Wenn bspw. ein Künstler eine naturalistische Skulptur schafft, die einen zusammengerollten, nackten Menschen zeigt, der ein solches Fieberthermometer im Hintern stecken hat, dann weist dieses als Symbol natürlich die oben aufgeführten Eigenschaften auf. Es ist als Symbol nicht mehr transparent auf seine Standardbedeutung hin, sondern viele Aspekte auf der Ebenen der Zeichengestalt und der Bedeutung sind zu berücksichtigen. Aller Voraussicht nach gibt es multiple und komplexe Bezüge zur Biographie des Künstlers, zur Kunstgeschichte, zur Geschlechtlichkeit und zur Gesellschaft, aber auch zur Medizin. Darum lassen sich Kunstwerke auch nicht sinnvoll als autarke Gegenstände begreifen, sondern am ehesten als relationale Objekte.15


Was lässt sich nun vor diesem Hintergrund über den Subjektbezug ästhetisch-künstlerischer Weltsichten sagen? Wir haben es hier mit einem offenbar kaum bis gar nicht standardisierten, wertbeladenen und subjektrelativem Symbolsystem zu tun, das hervorragend dazu geeignet ist, Gehalte des Erlebens zu kommunizieren, die anderweitig, bspw. mit den Sprachen des Alltags oder der Wissenschaften nicht oder zumindest nur sehr viel schwerer mitteilbar wären. Als solches wären sie in spezifischer Weise an der Konstruktion unserer jeweiligen Lebenswelten beteiligt. Symboltheoretisch gesehen ist die Rezeption von Kunstwerken mit einer Messung mit einem skalenlosen analogen Quecksilberthermometer ohne Angabe von Messtoleranzen vergleichbar - nur eben noch dazu in mehreren Dimensionen.16


Ganz anders steht es um die Symbolsysteme der Wissenschaften insbesondere der Naturwissenschaften und ihre daraus resultierende intersubjektive Überprüfbarkeit. Ihr Gegenstandsbereich ist von vornherein auf intersubjektiv überprüfbare Tatsachen eingeschränkt, und ihre Theorien beruhen letztlich immer auf elementaren Beobachtungen. Beobachten aber ist eine Wahrnehmungsweise, bei der anders als beim Erleben Emotionen einen nur begleitenden, bspw. motivierenden Charakter haben und die meist in einem Urteil mündet.17 Für diese Urteile sind dann die Emotionen, die möglicherweise das Zustandekommen der Beobachtung motiviert haben, unerheblich.

Der enorme Fortschritt der Wissenschaften in den letzten 100 Jahren beruht darum auch nicht zuletzt auf arbeitsteiliger Forschung. Von besonderer Bedeutung ist hier der Begriff des normalen Beobachters, also eines Menschen, der mit dem normalen Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten ausgestattet ist und sich emotionaler Wertungen enthält. Die Naturwissenschaften beschreiben die intersubjektive Welt - von allen rein subjektiven Faktoren, wie Werterlebnisse es sind, müssen sie darum abstrahieren. Nur so kann jeder normale Beobachter nach entsprechender Einweisung und hypothetischer Annahme der relevanten Prämissen bei einem Experiment auch genau die Erfahrungen machen, die die Theorie letztlich bestätigen - oder auch widerlegen. Wissenschaftliche Theorien sind in diesem Sinne prinzipiell offen. Nichtnormalen Beobachtern, bspw. Farbenblinden, kann meist unter Verwendung wiederum offener Theorien ihr kognitiver Defekt erklärt werden.18


Nun gibt es kein Analogon zum normalen Beobachter im Bereich des Erleben.19 Die kognitive Normalausstattung unserer Spezies reicht nicht aus, unser Erleben zu normieren, ist es doch, wie oben dargelegt, gerade die Aufgabe der Emotionen, unsere Reaktionen zu individualisieren. Darum werde ich, wenn ich im Falle einer Meinungsverschiedenheit über den Wert eines Kunstwerkes alle relevanten Informationen über das Werk und über die Wertdispositionen meines Kontrahenten verfüge, seinen Standpunkt sicherlich zwar besser nachvollziehen können. Dieses aber führt nicht unbedingt dazu, dass ich sein sein divergierendes Urteil begründendes (Wert-)Erleben in der Weise teilen werde, wie es im Beobachtungsfall mit den für das fragliche Beobachtungsresultat konstitutiven Wahrnehmungserfahrungen möglich ist. Damit soll keineswegs die ontologische oder epistemologische Würde künstlerischer Aktivität, sei sie produzierend oder rezipierend, bezweifelt werden. Diese Unabschliessbarkeit der Verstehensprozesse, der starke Bezug auf das Subjektive, Wert- und Erlebnishafte, diese Faktoren sind kein Manko. Das Lohnende an der Beschäftigung mit Kunst beruht im Gegenteil gerade auf diesen Aspekten. Nicht zuletzt darum bestätigen mehrere persönlichkeitspsychologische Untersuchungen, dass die Neigung sich mit Kunst zu beschäftigen in hohem Maße positiv mit folgenden Eigenschaften korreliert ist:

  1. der Bereitschaft, sich komplexen Situationen und Problemen zu stellen und dies möglicherweise sogar positiv zu erleben.
  2. der Bereitschaft, sich mit mehrdeutigen oder unrealistischen Situationen auseinanderzusetzen.
  3. der Fähigkeit zur bewußten Wahrnehmung auch kleinster und möglicherweise nebensächlicher Details unserer Umwelt.
  4. der Eigenschaft, eigene Urteile selbst dann zu vertreten, wenn sie von der Mehrheitsmeinung abweichen oder gesellschaftlichen Konventionen widersprechen.
  5. der Fähigkeit, sich bewußt auf eine im weitesten Sinne "kindliche" Art der Welt zu nähern.

Als negativer Faktor erwies sich dagegen vor allem die Vorliebe für entspannte, eindeutige und nicht herausfordernde Situationen. 20


Die Beschäftigung mit Kunst ist eine Weise, in der wir unsere phänomenale Welten gliedern, ordnen und damit zugleich überhaupt erst erschaffen. Kunstwerke beziehen sich allerdings nicht nur auf die intersubjektive Welt, sondern können auch rein subjektive Erlebnisgehalte thematisieren. Unsere Werturteile über Kunst wiederum sind immer an individuelle Wertdispositionen gebunden, die nicht intersubjektiv übereinstimmend ausgeprägt sind

.

Ein möglicher Einwand gegen eine solche Position besteht darin, darauf zu verweisen, dass es sowohl subjektive als auch objektive ästhetische Urteile gäbe. Letztere würden insbesondere im Zusammenhang mit Kunstwerken immer wieder geäußert, bspw. wenn jemand sagt, "ich schätze Cindy Shermans Arbeit "Untitled #250" sehr, aber sie gefällt mir nicht". Demnach, so der Einwand, gibt es zumindest in diesen Fällen eine Differenz zwischen dem aktuellen und subjektiven Werterleben und dem erkannten ästhetischen Wert. Das ästhetische Werturteil könne unabhängig vom Werterleben des Subjektes sein, indem es sich somit auf objektive ästhetische Werte bezieht. Aber was kann es bedeuten, beispielsweise ein Bild als schön zu "erkennen", ohne dass es einem gefällt?

Was hier zum Ausdruck kommt ist lediglich, dass ästhetische Werturteile im allgemeinen nicht ein Gesamterlebnis pauschal beschreiben, sondern nur bestimmte Aspekte aus einer ganzen Vielfalt an Wertungsdimensionen. Dabei verdecken häufig andere Aspekte den zu bewertenden. Obiger Einwand beruht einzig darauf, dass er dieses nicht berücksichtigt. Nur darum kann ich die wiedergegebene Arbeit Cindy Shermans einerseits als künstlerisch wertvoll beurteilen, weil ich sie für technisch und kompositorisch brillant halte und zudem thematische Tiefe in ihr erkenne und andererseits sagen, das Bild gefalle mir nicht. Dieses letztere Urteil habe ich nämlich möglicherweise hinsichtlich der Eignung des Bildes als Wandschmuck über meinem Sofa gefällt - und angesichts der Tatsache, dass ich meine drei kleinen Kinder nicht mit den dargestellten Inhalten konfrontieren möchte.


Die Folgen dieser Einsicht betreffen nicht nur die Philosophie, sondern vor allen Dingen die Kunstpädagogik und auch die Kunstvermittlung im allgemeinen. Wenn wir Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene an Kunst heranführen wollen, dann gibt es keinen in der Weise intersubjektiven Bewertungsmaßstab, wie er bspw. in Mathematik oder Physik existiert. Statt dessen müssen wir uns immer vor Augen halten, dass wir auf der Basis unserer subjektiven Wertdispositionen operieren und uns davor hüten, diese unbewusst zu objektiven Kriterien zu erheben. Die andere grosse Gefahr besteht darin, dass wir uns der Bewertung ganz enthalten, alles zulassen und keine Leistungsanforderungen stellen. Ersteres riefe bestenfalls Widerstand und schlimmstenfalls Mitläufertum hervor und letzteres Trägheit. Kunstunterricht würde zu einer Art Weg des geringsten Widerstandes. Die meisten von uns werden im Laufe ihrer Schulzeit sicherlich schon der einen oder anderen Form eines dergestalt missratenen Kunstunterrichtes begegnet sein.


Die Arbeit auf diesem Sektor erfordert größtmögliche Sensibilität und die uneingeschränkte Fähigkeit zu kritischer Selbstreflexion, zur Offenlegung der eigenen Präferenzen, und zugleich die Aufstellung klarer und keinesfalls trivialer Leistungsanforderungen. Gleichzeitig ist die Wichtigkeit des Kunstunterrichtes größer denn je. Wir leben in einer Welt, in der Bilder eine stetig zunehmende Bedeutung für unsere Kommunikation haben. Die sogenannten neuen Medien überschwemmen uns mit Informationen und Eindrücken. Wenn wir diese alle naiv für bare Münze nehmen würden und vergäßen, dass jede Form der Realität immer eine subjektgebundene Konstruktion ist, dann würden wir sofort zu einem leicht zu beeinflussenden Spielball. Jede Nachricht und sei sie auch öffentlich rechtlichen Ursprungs ist inszeniert; auch die Tagesschau beschäftigt ein Heer von Maskenbildnern, Beleuchtern, Texteschreibern und Kameramännern. Selbst der Prozess der Selektion, welches Ereignis überhaupt eine Nachricht wert ist, stellt eine Wertung dar.

Die Beschäftigung mit Kunstwerken, die nie transparent hinsichtlich ihrer Bedeutung sind, sondern immer auch ihre spezifische Symbolgestalt mitpräsentieren, eröffnet hier Möglichkeiten der Schulung nicht nur unserer Wahrnehmungsfähigkeiten sondern ebenso auch der kritischen Reflexion. Auch die Entwicklung und Schulung oben erwähnter Persönlichkeitsmerkmale kann darüber hinaus in einer sich stets wandelnden demokratischen Gesellschaft wie der unseren nur von Vorteil sein. Aus diesen Gründen alleine schon müßte die Förderung eines sinnvoll konzeptionierten Kunstunterrichtes den Ländern ein wichtiges Anliegen sein, anstatt ihn mit starrem Blick auf die Pisa-Studien und beeinflusst durch Stimmen industrieller Arbeitgeber auf dem Altar einer fragwürdigen pädagogischen Ökonomie zu opfern.


Anmerkungen

1 Vergl. z. B. Goodman 1997, 241-245 und ders. 1990, 169-170

2 Näheres hierzu z. B. in Piecha 2002, 222-224

3 Hierauf verweist bspw. von Kutschera 1988, 164f, ders. 1973, 129-134 und ders. 1977. Siehe auch Goodman 1997, 241-243. Eine ausführliche Diskussion findet sich in Piecha 2002, 212-221

4 Auch Koppe in Kleimann/Schmücker 2001, 110-116 plädiert für einen unterschiedlichen Geltungsanspruch wissenschaftlicher und künstlerischer Weltbezüge.

5 Die folgende Darstellung basiert auf Damasio 1997

6 Eine entfernte Verwandschaft dieser Betrachtungsweise zu den Atmosphären im Sinne Böhmes 1995, 31-35 ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings fehlt letzterer die explizite neurobiologische Fundierung - die im Rahmen dieses Vortrages zugegebenermassen nur skizzenhaft möglich ist. Ausführlicheres hierzu findet sich in Piecha 2002, 42-55

7 Ein Beispiel hierfür ist Franz von Kutschera in 1988, 74

8 Siehe Goodman 1997, 104-112 oder auch Danto 1999, 35-39

9 Schmücker 1998, 55f. und 59 arbeitet mit bspw. mit zwei, Seel 2000, 148-150 mit drei und Kleimann 2002, 93f. sogar mit vier ästhetischen Erfahrungstypen.

10 S. Lüdeking 1988, 196-201 und weiterhin auch Schmücker 1998, 264-166

11 Goodman 1997, insb. 209-222

12 Dieses Beispiel verwendet auch Danto 1999,166-173

13 In Goodman 1997 (orig. 1968), 232-235 sind es nur vier solcher Symptome, das fünfte fügt er erst in Goodman 1990 (orig. 1978), 88f. hinzu.

14 Genauer gesagt handelt es sich um eine Teilrelation der Konversen der Denotation. Derartige Feinheiten sind aber für den hier diskutierten Zusammenhang irrelevant (s. Goodman 1997, 59-63 und insb. 65)

15 Näheres s. Piecha 2002, 56-77

16 Vergl. Goodman 1997, 216f

17 Vergl. von Kutschera 1988, 13-21

18 Der Begriff der Offenheit wurde von Trapp in 1988, Kapitel I, 2.1 geprägt.

19 Kant dagegen war offenbar dieser Ansicht, sind es doch Erkenntnisvermögen und Gemeinsinn, welche bei jedem vernünftigen Menschen als gegeben vorausgesetzt werden können, die bei ihm die Grundlage für die subjektive Allgemeingültigkeit ästhetischer Urteile bilden. Verg. Kant 1963, 208-212

20 I. L. Child 1965, 507f.


Literatur:

Böhme, G. Atmosphären, Frankfurt 1995

Child, I. L. Personality correlates of aesthetic judgements in college students, in: Journal of Personality 1965/33, 476-511

Damasio, A. Descartes Irrtum, München 1997

Danto, A. C. Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt am Main 1999

Goodman, N. Sprachen der Kunst - Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1997

Goodman, N. Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main 1990

Kant, I. Die Kritik der Urteilskraft, Stuttgart 1963

Kleimann, B. Das ästhetische Weltverhältnis, 2002

Kleimann, B. u. Schmücker, R. (Hrsg.) Wozu Kunst?, Darmstadt 2001

Kutschera, F. v. Einführung in die Logik der Werte, Normen und Entscheidungen, München 1973

Kutschera, F. v. Das Humesche Gesetz in: Grazer Phil. Studien 4/1977, 1-14

Kutschera, F. v. Ästhetik, Berlin 1988

Lüdeking, K. H. Analytische Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1988

Piecha, A. Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile, Paderborn 2002

Schmücker, R. Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998

Seel, M. Ästhetik des Erscheinens, München, Wien 2000

Trapp, R. Nicht-klassischer Utilitarismus: eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1988

To the top of the page