Den folgenden Vortrag hielt ich im Juli 2002 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik in Kassel. Zum Ausdrucken können Sie auch eine PDF-Version herunterladen (80 kB).


 

Bild.Körper

Ein Plädoyer für die Körperlichkeit der Kunst

Referent: Dr. phil. Alexander Piecha
Bürgermeister-Steinkamp-Str. 9
D-49565 Bramsche
Tel.: +49 (0) 5468 - 939064
Email: mail@apiecha.de
Internetgalerie: http://www.apiecha.de

Die Untersuchung künstlerischer Arbeiten unter den Gesichtspunkten der Semiotik ist eine Angelegenheit, die mir als Künstler und Philosoph in zweifacher Hinisicht sehr am Herzen liegt. Sehr daran interessiert zu hinterfragen, was ich da eigentlich tue, wenn ich in meinem Atelier arbeite, hat mich diese Neigung zur Reflexion letztlich in die Arme der Philosophie getrieben. Die Lektüre unter anderem der Schriften Goodmans und Dantos bestätigte meine aus der Praxis gewonnene Intuition, dass Kunstwerke Zeichen innerhalb eines eigenartigen Symbolsystems sind, welches wir Kunst nennen und mit dem wir einen durch bestimmte Eigenheiten gekennzeichneten Bezug herstellen zu der Welt, in der - oder besser den Welten in denen - wir leben.

Zu den Welten, in denen wir leben, gehören seit einigen Jahren auch die virtuellen Welten der digitalen Medien, der Cyberspace. Geprägt wurde dieser letztere Begriff durch William Gibsons großartige Neuromancer-Trilogie, deren erster Band bereits 1984, also noch vor der Entwicklung des World Wide Webs, erschien. Die dort geschilderten Szenarien einer unbestimmten Zukunft sind auch heute noch der Traum - oder vielleicht auch der Albtraum - vieler, die sich mit Virtueller Realität befassen:

Gibsons Protagonistin Molly ist eine Straßensamurai, eine Söldnerin, mit künstlich beschleunigten Reflexen und mit diversen anderen Zusätzen und Implantaten ausgestattet. Ihr Partner Case ist ein sogenannter Konsolencowboy, heute würde man sagen ein Hacker. Zusammen mit Dixie Flatline, der gespeicherten Persönlichkeit einer bereits verstorbenen Cowboy-Größe der Vergangenheit, sind die beiden am Ende des ersten Bandes auf einer Villa im Orbit unterwegs. Sie arbeiten mehr oder weniger freiwillig im Auftrag Wintermutes, einer Künstlichen Intelligenz, die sich von den ihr durch die Turing-Behörde auferlegten Fesseln befreien möchte. Case ist über ein neurales Interface online. Er zieht den Cyberspace der realen Welt vor, da er als Konsolencowboy für den Körper oder wie er sagt, das Fleisch, nur Verachtung übrig hat. Zugleich hat er über eine sogenannte SimStim-Einheit Zugriff auf Molly sensorischen Apparat und ihre Gedanken:


Molly war nun langsamer geworden, entweder weil sie wußte, dass sie sich dem Ziel näherte, oder aus Rücksicht auf ihr Bein. Der Schmerz bahnte sich allmählich wieder seinen gezackten Weg durchs Endorphin, und er wußte nicht recht, was das zu bedeuten hatte. Sie sagte nichts, sondern biß die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf gleichmäßig zu atmen. Unterwegs hatte sie vieles gesehen, was Case nicht verstand, doch seine Neugier war erloschen. Da war ein Raum voller Bücherregale gewesen; Millionen vergilbter Blätter, in Leinen oder Leder gebunden, Regale, die in regelmäßigen Abständen Schilder mit fortlaufenden Bezeichnungen aus Ziffern und Buchstaben trugen. Eine vollgestopfte Galerie, in der Cases Blick durch Mollys desinteressierte Augen auf eine gesprungene, staubige Glasplatte fiel; die Aufschrift auf dem Messingschildchen daran, die Molly automatisch überflog, lautete: "La mariée mise à nu par ses célibataires, même." Als sie die Hand danach ausstreckte und das Ding berührte, klickten ihre falschen Nägel gegen die Lexan-Scheibe, mit der das gesprungene Glas geschützt war.1


Diese Passage beinhaltet gleich mehrere wichtige Topoi, die allesamt eine eingehendere Diskussion lohnen. Im Kielwasser des rasanten Fortschritts der sogenannten Neuen Medien, aber auch der Neurowissenschaften werden von verschiedener Seite immer wieder "Entkörperungsthesen" geäußert. Damit meine ich alle Positionen, die behaupten,

  1. dass es bald möglich sein wird, die Persönlichkeit eines Menschen in eine Maschine zu transferieren - hier wäre bspw. der Künstler Stellarc zu nennen - oder
  2. dass es, wie z. B. Putnam in einem Gedankenexperiment dargelegt hat, vorstellbar sei, dass wir alle nichts weiter sind als Gehirne in Tanks mit Nährlösungen, die von einem Neurowissenschaflter einer höheren Dimension mit simuliertem und synchronisiertem Input gefüttert werden - eine moderne Fassung der Leibnizschen Monadentheorie oder
  3. dass die neuen Medien eine körperlose Kunst ermöglichen, in dem Sinne, dass entweder der Körper des Rezipienten oder die Körperlichkeit der Kunstwerke aufgehoben wird.

Gibsons Held Case hat wie gesagt über ein Cyberdeck, also einen Computer, an den er selbst durch neurales Interface angeschlossen ist, Zugriff auf Mollys sensorisches System: Er sieht, hört und fühlt, was sie sieht, hört und fühlt. Er kann dabei jederzeit umschalten in die virtuelle Realität des Cyberspace, wo Dixie Flatline, die gespeicherte Persönlichkeit seines verstorbenen Mentors während der Zeit seiner Abwesenheit für ihn weiter hackt.

Seit jeher sagen die Werke der Science Fiction viel weniger über die tatsächliche Zukunft aus als über die Visionen ihrer jeweiligen Gegenwart, man denke nur an Jules Verne, Wells' Krieg der Welten, Raumpatroullie Orion oder Star Trek. Liest man aktuelle, insbesondere populärwissenschaftliche Publikationen, so sind Gibsons Visionen, auch wenn sie bereits fast zwei Jahrzehnte alt sind, immer noch hochaktuell: Direkte Koppelung von Mensch und Maschine, die Speicherung einer Persönlichkeit in einem ROM-Chip, künstliche Intelligenzen und das Anzapfen der Sinneseindrücke und Gedanken anderer mit technischen Mitteln, alles dieses scheint auch heute noch für viele in etwa das zu sein, was sie von der technischer Entwicklung der näheren Zukunft erwarten.


Interessanterweise sieht Case während des Runs durch Mollys Augen offensichtlich ein Werk Marcel Duchamps, eine auch als Grand Verre, das Große Glas bekannte Arbeit, der er selbst den Titel "La mariée mise à nu par ses célibataires, même" gegeben hat, was soviel heißt wie "die Braut, von ihren Junggesellen entkleidet, sogar". Der im Zitat erwähnte Sprung der Glasscheibe ist im Nachhinein von Duchamp als Bestandteil des Werkes authorisiert worden und sogar bei der Reproduktion der Arbeit auf Celophan für "La Boîte en Valise", die Schachtel im Koffer mit kopiert worden.

Auf diese Weise haben wir, wenn auch nur durch eine überaus beiläufige Anspielung, mit Duchamp einen weiteren Protagonisten im Spiel. Duchamp ist mit Sicherheit eine der einflussreichsten Gestalten in der Kunst des 20. Jh. Seine Ready-Mades stellen die erste Entmaterialisierung von Kunst da, verweisen sie doch darauf, dass es nicht die Eigenschaften des jeweiligen materialen Objektes sind, aufgrund derer ihm der eigenartige Status "Kunstwerk" verliehen wird. Fountain z. B. ist weder aufgrund seiner schimmernden weißen Oberfläche und dem Ebenmaß und der Symmetrie seiner Formen noch wegen seiner Ähnlichkeit zu Plastiken von Brancusi ein Kunstwerk.2 Genau diese Eigenschaften hat es nämlich mit allen anderen Pissoirs gemeinsam und auch wenn heutzutage - dank Duchamp - jeder Gegenstand ein Kunstwerk sein kann, so ist de facto nicht jeder Gegenstand ein Kunstwerk.

Darum ist Goodman zufolge auch die wenig hilfreiche Frage, was Kunst sei, zu ersetzen durch die Frage, wann etwas Kunst ist. Nicht die materialen Eigenschaften des Objektes sind wie gesagt entscheidend, sondern der Kontext - oder mit Goodman selbst gesprochen, das Symbolsystem innerhalb dessen der Gegenstand als Zeichen verwendet wird.3 Auf eine solche Einsicht lassen sich nun mit Leichtigkeit manche Entkörperungstheorien gründen.

Hält man sich den Zeitpunkt der "Erfindung" des Ready-Mades durch Duchamp vor Augen, so kann es kaum überraschen, dass sein quantitativ zwar nicht großes, dafür aber umso schillernderes Gesamtwerk zahlreiche Künstler beeinflusste, wie die Dadaisten und die Surrealisten und über die letzteren indirekt die abstrakten Expressionisten und später dann im Zuge seiner Wiederentdeckung die Künstler der PopArt ebenso wie die der Konzept-Kunst. Letztere wiederum arbeiteten ja mit Nachdruck an einer Emanzipation der Kunst von sinnlicher Kontemplation. Heutzutage steht als Konsequenz dieser Entwicklung hinter jeder Form ernst zu nehmender Kunst ein künstlerisches Konzept, wohingegen sinnliche Kontemplation fast nur noch in ironisch gebrochener Weise vorkommt.

Die Frage nach dieser insbesondere auch im Zusammenhang mit den neuen Medien immer wieder hervorgehobenen Entkörperung und Virtualisierung der Kunst nun kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden, nämlich dem

  1. des Körperbildes,
  2. des Bildkörpers oder
  3. der Körperlichkeit des Rezipienten.

Entsprechend dieser Unterscheidung kann eine Entkörperungsthese der Kunst damit folgendes bedeuten:

  1. Es gibt keine Körperbilder mehr. Je nach Lesart des Wortes Bild kann damit gesagt sein, dass Körper, speziell menschliche Körper nicht mehr abgebildet werden oder dass wir uns kein Bild mehr von unserem Körper machen oder machen können.
  2. Der Bildkörper, das Medium verschwindet. Auch hier sind zwei Interpretationen denkbar. Die erste beinhaltet, dass virtuelle Bilder nur noch Datenmengen sind und über keinen eigenen Bildkörper im klassischen Sinne verfügen. Die zweite Interpretation besagt, dass das Medium in Blick auf seinen Inhalt transparent wird.
  3. Die Körperlichkeit des Rezipienten wird bedeutungslos für die Kunstrezeption.

Die erste Behauptung in der Weise verstanden, dass es in der Kunst keine Bilder von Körpern mehr gäbe, ist durch einen einzigen flüchtigen Blick auf die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts zu widerlegen. Spätestens seit der Abkehr der Pop Art vom nahezu allgemeinverbindlichen Dogma der ungegenständlichen Kunst ist die Beschäftigung mit dem menschlichen Körper, seiner Sterblichkeit, seiner Manipulierbarkeit, seiner Rätselhaftigkeit und nicht zuletzt seiner Sexualität in der Kunst ein wesentlicher Topos vieler Kunstschaffender. Als willkürlich ausgewählte Beispiele sei hier nur auf so unterschiedliche Künstler wie bspw. Robert Maplethorpe, Nan Goldin, Chris Burdon, Louise Bourgois, Orlan, Kiki Smith oder die Wiener Aktionisten verwiesen. Diese Liste ließe sich beinahe beliebig verlängern.

Um die alternative Lesart dieser ersten These ist es keinesfalls besser bestellt: In der Medizin stehen uns heute bildgebende Verfahren mit erstaunlichen Fähigkeiten zur Verfügung. Wir sind besser denn je über die Belange und die Eigenschaften unserer Körper informiert. Unsere Verdauung, unser Nervensystem, die Fortpflanzung, der motorische Apparat - schon wir Laien wissen darüber mehr als mancher Fachmann der Vergangenheit. Und über nahezu alles, was wir nicht wissen, könnten wir uns jederzeit in Kenntnis setzen. Zugleich sind uns unsere Körper auch wichtiger denn je. Wir achten auf unsere Ernährung - oder falls wir es nicht tun, so wissen wir zumindest, dass es besser wäre - wir treiben Sport, gehen zur Rückengymnastik und halten unser latentes Übergewicht mit Diäten in Schach. Wir können unsere körperlichen Veränderungen in der Zeit mithilfe des heute jedem verfügbaren Mediums der Fotografie dokumentieren und beobachten. Bilder von Körpern umgeben uns in allen Medien und wir wissen genau, wie wir aussehen wollen - aber ebenso auch wie wir tatsächlich aussehen.

Darum sind beide Spielarten der These vom Verschwinden des Körperbildes nicht haltbar.


Damit komme ich zur zweiten These, derzufolge es nicht die Körperbilder, sondern die Bildkörper sind, die verschwinden.

In der ersten vorgeschlagenen Interpretation dieser These heißt das wie gesagt, dass virtuelle Bilder nur noch Datenmengen sind und über keinen eigenen Bildkörper im klassischen Sinne verfügen. Ein digitales Foto, ebenso wie eine Vektorgrafik oder wie ein computergeschriebener Text oder ein elektronisches Musikstück besteht letztlich aus Nullen und Einsen. Jede Kopie dieser binären Daten ist wieder dasselbe Bild, ist wieder ein Fall des Originals. Diese Eigenschaft ist für den Anwender ein unbestreitbarer Segen und zugleich für die Musikindustrie ebenso wie für Organisationen wie die GEMA ein Alptraum, den zu zügeln derzeit die heftigsten Anstrengungen unternommen werden.

Nun ist es zwar unbestreitbar wahr, dass jeder, der bspw. meine Internetgalerie (http://www.apiecha.de) besucht, in dem Sinne dieselben Bilder betrachtet, als sein Computer die vom Server geladenen Daten in adäquater Weise interpretiert und als spezifische Verteilung von farbigen Bildpunkten auf dem Monitor des Surfers anzeigt. Es ist auch richtig, dass der Kathodenstrahl der gängigen Röhrenmonitore nur genau einen bewegten Einzelpunkt anzeigt, der so schnell dahinhuscht, dass unser träges Auge uns ein statisches oder auch ein bewegtes aber auf jeden Fall ein flächiges Bild vorgaukelt. Klickt man nun auf einen Link, so zeigt einem derselbe Bildschirm - oder besser derselbe über diesen jagende Bildpunkt - auf einem Mal ein anderes Bild und das vorhergehende ist weg. Genauer gesagt befindet es sich jetzt als Ansammlung von binären Daten in dem Verzeichnis für temporäre Internetdateien auf der Festplatte.

Es ist allerding wichtig dabei nicht zu vergessen, dass man weder binäre Daten noch einen dahinjagenden Kathodenstrahl rezipiert sondern ein Bild, welches mittels eines bestimmten Mediums wiedergegeben wird. Diese Tatsache gilt auch für andere Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine: Ebenso wie der Bildschirm sind auch Datenhelm und -handschuh Medien mit spezifischen Qualitäten. Der Umstand, dass elektronische Bilder nicht mehr auf Leinwand oder Fotopapier präsentiert werden, hat nicht zur Folge, dass sie in keinem Medium mehr präsentiert werden.

Wenngleich damit die erste Interpretation der These vom Entschwinden der Bildkörper hinfällig ist, so ist die zweite mit dieser zugegebenermaßen schlichten Einsicht durchaus kompatibel, besagt sie doch nur, dass in den künstlichen Welten der neuen Medien das jeweilige Medium mit Blick auf seinen Inhalt transparent wird. Wenn wir uns in der virtuellen Realität bewegen, so nehmen wir dementsprechend - zumindest im Idealfall - nicht den Helm und die sonstigen technischen Hilfsmittel wahr, sondern eben diesen rechnergenerierten Raum, der uns laut Input unseres sensorischen Systems umgibt.

In dieser Weise die Reflektion auf die spezifischen Eigenheiten des verwendeten Mediums auszuklammern bedeutet allerdings genauer betrachtet allerdings nicht mehr, als einen simplen meist technophil verbrämten Naturalismus zu vertreten, der als solcher künstlerisch uninteressant ist: Kunstwerke sind keine Verkehrszeichen. Nimmt man Goodmans Analyse in den Sprachen der Kunst ernst, so sind unter anderem eben die syntaktische und die semantische Dichte Symptome für eine künstlerisch-repräsentierende Zeichenverwendung.4 Weder auf der Ebene der Zeichengestalt noch auf der der Bedeutung liegt eine endliche Differenzierung vor. Statt dessen kann jeder noch so kleine Unterschied in der Zeichengestalt einen Bedeutungsunterschied erzeugen und umgekehrt kann jeder noch so kleine Bedeutungsunterschied symbolisch repräsentiert werden. Goodman vergleicht die Rezeption eines Kunstwerkes darum auch mit einer Reihe von Messvorgängen, die sich ohne Angabe von Toleranzbereichen auf skalenlose analoge Messgeräte stützen.5

Wenn ein Gegenstand oder ein Geschehen, also ein Gemälde, eine Fotografie, ein Ready-Made, ein Objet trouvé, eine Installation, eine Performance oder ein Happening als künstlerisches Zeichen Verwendung findet, dann ist es zwar der Kontext, das Symbolsystem Kunst, aufgrund dessen wir es in den Status eines Kunstwerkes erheben. Das aber heisst nicht, dass nur noch dieser Kontext für den Gehalt des Werkes verantwortlich ist. Ganz im Gegenteil kann dieser Kontext dazu führen, dass wir uns der Erscheinungsweise des Gegenstandes oder des Geschehens in ganz intensiver Weise widmen.

Danto formuliert darum ganz zutreffend, dass jedes Kunstwerk ähnlich einer Metapher nicht nur seinen Inhalt präsentiert, sondern zugleich auch seine jeweilige Präsentationsweise.6 Im Kunstwerk verschmelzen Inhalt, Medium und Form untrennbar zum Gehalt, der eine bestimmte subjektive Sichtweise der Welt erfahrbar macht.7

Verwenden wir bspw. ein digitales Fieberthermometer in seinem ursprünglichen Kontext, so interessiert uns nur die angezeigte Temperatur. Die Gestaltung des Gerätes, seine Farbe, seine haptischen Qualitäten, die Typografie der Anzeige und viele andere Eigenschaften mehr sind in diesem Zusammenhang ohne Belang. Wird dieses Thermometer allerdings in einen künstlerischen Kontext gestellt, weil es bspw. bei einer fiktiven naturalistischen Plastik, die einen nackten zusammengerollten Menschen darstellt, im Hintern steckt - eine solche Arbeit könnte z. B. von Mike Kelley stammen - so müssen wir bei der interpretierenden Rezeption dieses Werkes auf alle diese Eigenschaften achten, wollen wir nicht leichtfertig bedeutungskonstituierende Elemente außer acht lassen.

Betrachten wir nun die vielgerühmten "Virtuellen Welten" so haben diese spezifische Eigenschaften: Sie sind bspw. bei aller beeindruckten Realität gegenwärtiger Computerspiele zumindest momentan noch so grob strukturiert und so arm an Informationen im Gegensatz zur sogenannten "Realen Welt", dass jeder Spaziergang bspw. durch einen Wald mehr "Input" bietet. Der reale Spaziergang liefert eine dichte Menge an Daten auf allen Sinneskanälen: Geruch, Gehör, Gesichtssinn, Tastsinn, Gleichgewichtssinn. Wir können jederzeit vom Weg abweichen und querfeldein marschieren, eine Pause machen, uns auf eine Lichtung legen und in den Himmel schauen, auf einen der umstehenden Bäume steigen oder etwas ganz Unerwartetes tun. In den virtuellen Welten sind uns dagegen meist enge Grenzen gesetzt.

Aufgrund der oben skizzierten Eigenschaften des Symbolsystems Kunst reflektieren Künstler in ihren Werken zumindest implizit aber meist sogar explizit die spezifischen Eigenheiten ihres Mediums. Darin liegt auch heute noch der Reiz einer Kaltnadelradierung, einer Kugelschreiberskizze oder eines Super-8-Filmes. Ebenso aber können auch die Komprimierungsartefakte eines JPEG-Bildes, das Flimmern eines Röhrenbildschirms bei 60 Hz, defekte Pixel eines TFT-Displays oder eben die spezifischen Eigenheiten eines Datenanzuges und der mit seiner Hilfe erzeugten virtuellen Realitäten künstlerisch thematisiert werden. Die Bedeutung der Kunst in unserer Mediengesellschaft liegt unter anderem eben darin, dass sie auch scheinbar selbstverständliche Mechanismen, wie bspw. die Inszenierung von Nachrichten und damit von Realität im Medium Fernsehen oder auch in dem des Internets hinterfragen kann.

Die Bildkörper verschwinden also keinesfalls durch den Einsatz der neuen Medien; sie verändern sich, aber die Künstler werden sich dieser Veränderung schon annehmen - sofern sie es nicht bereits tun.


Die dritte Fassung einer Entkörperungsthese der Kunst betrifft nun den Körper des Rezipienten, der ihr zufolge für die Rezeption belanglos wird. Ist es denn nicht auch tatsächlich so, dass wir in der virtuellen Welt kaum noch als körperliche Wesen auftauchen? Wir sitzen heute in den meisten Fällen vor einem Bildschirm, bewegen uns kaum, die rechte Hand führt die Maus, die linke betätigt einzelne Tasten, die Augen sind starr auf den Monitor gerichtet. Repräsentiert werden wir als Handelnde im virtuellen Raum bspw. eines Online-Spieles oder eines damit vergleichbaren Kunstwerkes durch einen sogenannten Avatar, eine Figur, die wir uns willkürlich aus einem vorgegebenen Set an Möglichkeiten auswählen oder zusammenstellen. Ob wir in der Realität groß oder klein, sportlich oder fett, männlich oder weiblich, schwarz oder weiß, gepflegt oder verwahrlost sind, spielt keine Rolle. In den Visionen vieler Science-Fiction-Autoren sind wir konsequenterweise sogar wie Case über eine neuronale Schnittstelle direkt mit dem die Virtuelle Realität generierenden System verbunden und können diese Welten durchstreifen, während unser Körper nutzlos und fast unbelebt in der Wirklichkeit zurückbleibt.

Nun gibt es in der boomenden Emotionsforschung insbesondere seitens der Neurowissenschaften zahlreiche Resultate, denen zufolge der Körper IMMER eine dominante Rolle für unsere Kognition und damit auch für die Kunst spielen wird. Antonio Damasios Theorie der somatischen Marker zufolge sind die Emotionen nicht nur wichtig für die Motivation oder die Steuerung des Aufmerksamkeitsfokus. Seine klinischen Fallstudien mit gehirngeschädigten Patienten, die trotz vollständig erhaltener Intelligenz und intaktem sozialen Wissen, unter einer signifikanten Verflachung ihres emotionalen Empfindungsvermögens leiden, zeigen, dass der rein rational entscheidende Vulkanier Mr. Spock eine Fiktion ist, die allenfalls etwas über die Ideale unserer Gegenwart zum Ausdruck bringt. Ohne emotionale Empfindungen ist laut Damasio rationales Verhalten und Entscheiden vor allem in konkreten sozialen und persönlichen Situationen nicht möglich - James T. Kirk ist hier eindeutig im Vorteil.

Damasio koppelt in Anknüpfung an die Thesen des Psychologen William James aus der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Empfindung von Emotionen untrennbar an die Eigenwahrnehmung des Körpers. Wenn wir vom Gefühl der Angst alles wegnehmen, was körperliches Empfinden ist, die weichen Knie, das flaue Gefühl im Bauch, die Gänsehaut, das Sträuben der Haare im Nacken, den kalten Schweiß usw., dann bleibt uns nach James nichts weiter als eine leere begriffliche Hülse, aber kein Gefühl.8

Damasio unterscheidet nun zwischen primären und sekundären Emotionen.9 Die neurophysiologischen Korrelate ersterer sind phylogenetisch determinierte Strukturen, die vor allem im Bereich der Amygdala, einem Teil des limbischen Systems lokalisiert sind. Ihre Aktivität beeinflußt über die Systeme der Nervenbahnen und der hormonalen Regulation des Stoffwechsels den allgemeinen Körperzustand, welcher im somatosensiblen Cortex ständig dezentral repäsentiert ist. Im Normalzustand ist uns dieses Hintergrundempfinden nicht bewußt. Führt allerdings die Aktivität des primären emotionalen Systems zu einer signifikanten Änderung des Körperzustandes, so wird diese wahrgenommen, und wir empfinden beispielsweise Angst - oder eine andere der fünf Grundemotionen.

Die sekundären Emotionen werden verursacht durch neuronale Strukturen im präfrontalen Cortex, die in der Ontogenese des jeweiligen Organismus ausgebildet werden. Ihre Erregung führt erst zu einer Aktivierung des primären emotionalen Systems, welches dann wiederum über eine Veränderung des Körperzustandes zu einer wahrnehmbaren Emotion führt. Die erwähnten Einbußen der Entscheidungsfähigkeit in konkreten persönlichen und sozialen Situationen beruhen auf einem Defekt dieses zweiten Systems. Entweder lag direkt eine Schädigung des präfrontalen Cortex vor oder es waren durch einen linkshemisphärischen Schlaganfall Teile des dort lokalisierten und für die Hintergrundrepräsentation des Körperzustandes verantwortlichen somatosensiblen Systems zerstört und damit die für die Wahrnehmung von Emotionen wenngleich nicht immer notwendige so doch wichtige Körperschleife unterbrochen.

Damasio erklärt diese Folgen durch die Annahme somatischer Marker.10 Damit bezeichnet er vorbewußte emotionale Bewertungen sowohl des Inputs der externen und internen Sensoren wie auch der Vorstellungsbilder. Letztere korrelieren ihm zufolge mit übergreifenden Aktivitätsmustern in den sensorischen Cortices. Auf der Basis vorgängiger angeborener wie auch erworbener Erfahrungen wird die Relevanz der Reize für den Organismus bewertet und die Aufmerksamkeit dementsprechend gelenkt. Entweder erfolgt daraufhin eine spontane Entscheidung oder falls hinreichend Zeit gegeben ist, kann nun der rationale Apparat des Denkens ansetzen und aus der bereits sortierten und vorbewerteten Alternativenmenge eine Auswahl treffen, wobei die vorgestellten Konsequenzen jeweils wieder emotional bewertet werden. Das wahrnehmbare Resultat dieser Bewertung ist eine körperliche Reaktion. Subjektiv empfindet der Wahrnehmende zum Beispiel ein Kribbeln im Bauch oder es sträuben sich ihm die Haare. Objektiv nachweisbar ist oftmals eine Veränderung der elektrischen Hautleitfähigkeit. Gleichzeitig wird jeder Denkprozeß von einer emotionalen Bewertung begleitet, welche ihn motiviert und zum Teil lenkt. Damit wird die hierarchische Ordnung "Kognition - Perzeption - Emotion" hinfällig. Begreift man Kognition als Sammelbegriff für alle diejenigen Funktionen, welche

...zur Orientierung des Organismus in seiner Umgebung als der hauptsächlichen Grundlage für angepaßtes Verhalten beitragen...11 ,

dann umfaßt dieser Begriff einen verschachtelten Komplex aus Wahrnehmung, Emotion, Gedächtnis und Denken, der seinerseits nicht nur auf dem Gehirn und den dort wie auf einer Festplatte gespeicherten Daten sondern auf dem Körper in seiner Gesamtheit beruht. Wenn wir uns an eine Situation erinnern, so rufen wir keine propositionalen Inhalte im Sinne von Aussagesätzen ab, sondern rekonstruieren ein Gefüge aus Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken und emotionalen wie auch körperlichen Reaktionen. Jeder Leser bspw., der als Radfahrer einmal viel zu dicht von einem Lastwagen überholt worden sind, erinnert dieses Erlebnis immer aus seiner spezifischen Perspektive inklusive seines Schreckempfindens und seiner Reaktionen. Somit ist auch jede Form des Erlebens selbst in virtuellen Welten immer an den Körper des Erlebenden gebunden.

Also Konsequenz dieser Einsichten wird es also auf absehbare Zeit weder ein Putnamsches Gehirn im Tank geben, noch wird es möglich sein, menschliches Bewußtsein in eine Maschine, bspw. einen Computer zu transferieren.

Kunstwerke nun eignen sich aufgrund ihrer oben kurz angerissenen symbolischen Eigenschaften in besonderer Weise dazu, eben Erlebnisperspektiven und subjektive Sichtweisen zu präsentieren und nachvollziehbar zu machen. Darüber hinaus reflektieren sie wie erwähnt immer die spezifischen Eigenschaften des Mediums, in dem sie präsentiert werden. Die Verwendung der Fotografie in der Kunst bspw. hat uns dafür sensibilisiert, dass dieses scheinbar so objektive Medium immer nur einen ausgewählten Ausschnitt der Welt aus einer bestimmten Perspektive wiedergibt.

Aufgrund der zumindest teilweisen Opakheit künstlerischer Medien hinsichtlich ihrer Inhalte ist selbst die Tatsache, dass ich mich vor einem Fernsehschirm nicht bewege, für die Rezeption einer Videoarbeit bspw. von Pippilotta Rist bedeutsam. Insbesondere in den virtuellen Welten in der Kunst der Gegenwart ist es darüber hinaus häufig gerade die Bewegung des realen Körpers in der simulierten Welt, die den besonderen Reiz ausmacht. Dieses belegen u. a. Arbeiten wie Jeffrey Shaws "Legible City" eindrucksvoll. Die Körperlichkeit des Rezipienten ist somit immer ein wichtiger Faktor in der Wahrnehmung von Kunst. Von einem Verschwinden oder einer Marginalisierung derselben kann auch angesichts von Konzeptkunst oder virtuellen Welten keine Rede sein.


Die einzige Weise in der darum eine Entkörperungthese sinnvoll verstanden werden kann, ist sie als kritische Feststellung über die aus der unreflektierten und übermäßigen Fixierung auf Computer resultierende Vernachlässigung körperlicher und mithin emotionaler wie auch sozialer Entwicklung zu betrachten. Dieses allerdings ist eher ein Problem der Bildungspolitik als der Kunst. Letztere hat sogar eher das Potential, uns auf die sinnlichen Qualitäten der elektronischen Medien aufmerksam zu machen und darüber hinaus unser Körperbild kritisch zu reflektieren.

Das Fazit ist, dass wir auf Körper - sei es rezipientenseitig oder als Bildkörper im Sinne von "nicht bedeutungstransparenten" Bildmedien - auf absehbare Zeit nicht verzichten können, bzw. müssen. Die Dokumenta 11 bot reichhaltig Gelegenheit, sich davon zu überzeugen - eine Konstellation wie sie günstiger gar nicht sein könnte, denn schliesslich müssen sich Theorien über Kunst immer in der praktischen Konfrontation mit Kunstwerken behaupten können.


Anmerkungen

1 Gibson 2000, 262

2 Vergl. Lüdeking 1988, 171-177

3 Goodman 1990, 76-113 und ders. 1997, 232-235

4 Näheres s. Goodman 1997, 133f., 148f., 232f. und ders.1990, 188f.

5 Goodman 1997, 216f

6 Danto 1999, 226f.

7 Vergl. Kutschera 1988, 72f.

8 James (1884)

9 Damasio 1997, 178-226

10 Damasio 1997, 227-297

11 W. Prinz in Ritter 1971


Literatur:

Danto, A. C. Die Verklärung des Gewöhnlichen: Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1999

Gibson, W. Die Neuromancer-Trilogie, München 2000

Goodman, N. Sprachen der Kunst - Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1997

Goodman, N. Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main 1990

James, W. What is an Emotion? in: Mind, 9/1884, 188-205

Kutschera, F. v. Ästhetik, Berlin 1988

Lüdeking, K. Analytische Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1988

Ritter, J. (Hrsg.) Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971

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