Im folgenden können Sie eine Zusammenfassung meiner Dissertation lesen, die soeben reichhaltig bebildert im mentis-Verlag in Paderborn erschienen und somit im Buchhandel, bspw. bei amazon.de, erhältlich ist. Eine erste Rezension aus der Feder Reinhard Mehrings ist soeben im Philosophischen Literaturanzeiger (55/2002, 132-134) erschienen.


Das Thema meiner Dissertation lautet:

Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile

„... über Geschmack läßt sich nicht streiten ...“

und dennoch wird gerade über die Fragen des Gefallens und Nichtgefallens erbittert gestritten; es wird argumentiert und es wird versucht zu überzeugen. Insbesondere auf der Ebene des künstlerischen Werturteils erheben die Beteiligten dabei häufig auch einen beträchtlichen Anspruch auf Objektivität. Dies zeigen die öffentlichen Diskussionen anläßlich solcher Großveranstaltungen, wie beispielsweise der Dokumenta immer wieder deutlich. Ziel meiner hier zusammengefaßten Arbeit ist es, die Möglichkeiten der Begründung ästhetischer Urteile und die Struktur dieser Begründungen zu untersuchen. Damit verknüpft ist dann auch die Frage, inwieweit und auf welche Weise ästhetische Urteile sich objektivieren lassen, das heißt ob sich über „Fragen des Geschmacks“ doch (sinnvoll) streiten läßt.


1  Begriffsklärung

Das Thema meiner Arbeit sind also ganz allgemein ästhetische Urteile, ihre Struktur und ihre Begründbarkeit. Um hierbei sprachliche Mißverständnisse möglichst von vornherein auszuschließen, sei zunächst eine vorläufige und demanch noch unscharfe Explikation des Begriffes "ästhetisches Urteil" gegeben:
Unter ästhetischen Urteilen verstehe ich solche, welche den Gehalt ästhetischer Erfahrung beschreiben, wobei sowohl der Term "ästhetisch", als auch der der "ästhetischen Erfahrung" noch ausführlich zu explizieren sein wird. Sie lassen sich unterteilen in deskriptive Urteile (A) und Werturteile (B) die jeweils ihrerseits sich in spontane (1) und reflektierte (2) ästhetische Urteile gliedern lassen. Die zentrale Aufmerksamkeit der vorliegenden Arbeit gilt dabei den "reflektierten ästhetischen Werturteilen" (B2), welche zunächst definiert seien als Urteile hinsichtlich der Kategorie des Gefallens/Nichtgefallens eines Wahrnehmungsgegenstandes um seiner selbst willen. Dabei ist "Wahrnehmungsgegenstand" im weitesten Sinne des Wortes zu verstehen, das heißt der Begriff beinhaltet physische Objekte zum Beispiel Autos, Bilder, Bäume ebenso wie Lebewesen, Situationen, zum Beispiel Sonnenuntergänge und auch taktile oder akustische Erlebniseinheiten, wie zum Beispiel Musik. "Um seiner selbst willen" bedeutet dabei, dass bei der Beurteilung von allen externen Zwecken abgesehen wird, zu denen der betreffende Wahrnehmungsgegenstand noch dienen könnte. Naturgemäß stellt diese Forderung im Bezug auf die alltägliche Realität des ästhetischen Urteilens eine kategoriale Idealisierung in dem Sinne dar, als bei der Bewertungssituation nach Möglichkeit "normale" Rahmenbedingungen herrschen sollten und außerdem von allen bloß überlagernden Affekten zu abstrahieren ist. Im Alltag werden sich zumeist auch externe Zwecke in unser Urteilen einschleichen. So wird ein Urteil über die Schönheit des Designs eines Autos des Öfteren wohl auch eine Einschätzung seiner Eignung als Statussymbol – zwecks Beeindruckung des Nachbarn – enthalten. Ebenso kann ein außergewöhnlich starker Affekt (zum Beispiel verliebt oder depressiv zu sein) die Zuschreibung künstlerischer Qualitäten entscheidend beeinflussen, ohne an sich künstlerisch relevant zu sein.
Deskriptive ästhetische Urteile, seien sie spontan oder reflektiert, bilden eine wichtige Grundlage für die Begründung reflektierter Werturteile und werden unter diesem Gesichtspunkt auch im Rahmen dieser Arbeit untersucht. Der in diesem Zusammenhang uninteressanteste Fall ist der des spontanen Werturteils. Selbiges wird im allgemeinen nicht begründet, beziehungsweise geht im Falle einer expliziten Begründung in ein reflektiertes, ästhetisches Werturteil über. Nichtsdestotrotz sind gerade diese Urteile der Ausgangspunkt fast aller experimentellen Untersuchungen der psychologischen Ästhetik, weshalb auf sie ebenfalls kurz eingegangen werden soll.


2  Die Thesen

Im Rahmen meiner Arbeit werde ich folgende fünf Thesen vertreten, erläutern und begründen, wobei die jeweilige Thesennummer derjenigen des Kapitels entspricht, in welchem die These ausführlich behandelt wird. Jedem Kapitel ist dann der Übersicht halber noch einmal die behandelte These vorangestellt.

2.1 Die These vom relationalen Charakter ästhetischer Objekte:

Die Gegenstände ästhetischer Urteile, die ästhetischen Objekte, unter ihnen insbesondere die Kunstwerke, sind relationale Objekte. Wie jeder andere Wahrnehmungsgegenstand beruhen sie auf einer hypothetischen Konstruktion des Wahrnehmenden, wobei gerade bei ästhetischen Objekten die jeweilige subjektive Wahrnehmungsweise konstitutiv ist. Die Interpretation des ästhetischen Objektes durch den Betrachter ist insbesondere bei einem Kunstwerk ein notwendiger Bestandteil desselben.

2.2 Die These von der begrenzten Subjektivität ästhetischer Interpretationen

Ästhetische Urteile basieren auf dieser Interpretation des ästhetischen Objektes durch den Urteilenden und auf dessen Präferenzen und sind damit zwangsläufig ebenfalls subjektiv und hypothetisch. Dennoch sind sie nicht völlig beliebig; der ästhetischen Interpretation sind durch das ästhetische Objekt selbst und dessen zeitliche und räumliche Bezüge Plausibilitätsgrenzen gesetzt.

2.3 Die These vom kognitiven Charakter ästhetischer Erfahrungen

Alle Wahrnehmungsgegenstände sind ausdruckshaft, da sie bereits im Prozeß der Wahrnehmung vorbewußt hinsichtlich ihrer Relevanz für das jeweilige Subjekt bewertet werden. Diese kognitive Funktion der Emotionen, ohne die eine angemessen schnelle Orientierung in unserer komplexen sozialen Umwelt nicht möglich wäre, ist für die ästhetische Erfahrung konstitutiv. Eine darauf aufbauende Analyse ästhetischer Urteile eröffnet einen Zugang zum Phänomenbereich des Ästhetischen, welcher sowohl der Kunst als auch dem "ästhetischen Alltag" gerecht werden kann.

2.4 Die These von der grundsätzlichen Subjektbezogenheit ästhetischer Urteile

Begründungen ästhetischer Urteile beweisen nicht eine, wie auch immer geartete, "objektive Wahrheit" des Behaupteten, welche für alle Subjekte verbindlich wäre, sondern rechtfertigen auf der Basis einer plausiblen Interpretation und der Präferenzen des Urteilenden die Angemessenheit des Urteils. Zur Anwendung können dabei sowohl Argumente bezüglich einer adäquaten Wahrnehmungsweise kommen, als auch solche, die sich auf externe Bezüge des beurteilten Gegenstandes beziehen. Die Angemessenheit der verwendeten Bewertungskriterien hängt dabei vom Urteilenden und wesentlich auch vom beurteilten ästhetischen Objekt selbst ab.

2.5 Die These von der subjektiven Wahrheitsdefinitheit ästhetischer Urteile

Dennoch sind ästhetische Urteile grundsätzlich wahrheitsfähig, also wahr oder falsch, und lassen sich somit auch begründen – sogar in einem deduktiven Sinne. Allerdings ist ihre Wahrheit immer auf ein bestimmtes urteilendes Subjekt und seine Interpretation des ästhetischen Objektes bezogen – im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Urteilen, bei denen durch Standardisierungen von vornherein eine hohe intersubjektive Übereinstimmung gegeben ist. Um dennoch auch ästhetische Urteile auf der Grundlage evolutiver und gegebenenfalls auch kultureller Gemeinsamkeiten (in deutlich begrenzterem Umfang) intersubjektiv nachvollziehbar zu machen, ist es notwendig, innerhalb der Begründung auch die zugrunde liegenden Annahmen und Präferenzen offen darzulegen.


3  Die Zusammenfassung des Argumentationsganges

Hieran anschließend sei eine kurze Zusammenfassung des zur Begründung obiger Thesen notwendigen Argumentationsganges gegeben:

3.1 Im folgenden soll der von verschiedenen Autoren höchst unterschiedlich verwendete Begriff der Kognition als Sammelbegriff für alle diejenigen Funktionen verstanden werden, welche

"... zur Orientierung des Organismus in seiner Umgebung als der hauptsächlichen Grundlage für angepaßtes Verhalten beitragen. ..."
Bereits jede Form der alltäglichen Wahrnehmung enthält einen im allgemeinen vorbewußten, aber aktiven Interpretationvorgang, der untrennbar mit zahlreichen (implizit-)kognitiven und emotionalen Funktionen verknüpft und weit davon entfernt ist, "lediglich" passiv abzubilden. Dieser – und damit die Wahrnehmung insgesamt – ist in hohem Maße von (kulturellen) Lernvorgängen abhängig und hat seinerseits starken Einfluß auf kognitive Prozesse, wie eben unter anderem das Lernen. Denken, Wahrnehmung und auch Emotion beeinflussen sich bei der Konstruktion unserer Wirklichkeit gegenseitig und sind funktional aufeinander angewiesen. Wichtig ist hierfür die kognitive Bedeutung der Emotionen; das emotionale Zentrum im Gehirn (insbesondere das limbische System) ist unter anderem das Eigenbewertungsorgan des Menschen. Es ist eng mit den "höheren" Komplexen verknüpft und diesen außerdem vorgeschaltet. Jedes Ereignis erfährt dadurch unmittelbar und vorbewußt eine Bewertung hinsichtlich seiner Bedeutung für den erlebenden Menschen, die zum einen auf elementaren, angeborenen Strukturen beruht und zum anderen auf den individuellen Erfahrungen jedes Einzelnen. In diesem Sinne hat jedes Wahrnehmungsobjekt, wenn es uns zu Bewußtsein kommt, immer schon einen Ausdruck und diese Ausdruckshaftigkeit findet ihren Niederschlag in zum Teil überaus komplexen affektiven Zuständen des gesamten Körpers, den somatischen Markern.
Damit nun ein Objekt unserer Wahrnehmung ein ästhetisches werden kann, muß es Gegenstand einer ästhetischen Erfahrung werden. Der Begriff der ästhetischen Erfahrung ist für diese Arbeit von zentraler Wichtigkeit, da er dazu dienen wird, einen Zugang zu ästhetischen Phänomenen ganz allgemein zu eröffnen. Die ästhetische Erfahrung ist zum einen dadurch gekennzeichnet, dass sie keine funktionale Perspektive besitzt, sondern auf dem individuellen und bewußten Erleben genau jener – im Alltag nur vorbewußt erfahrenen – Ausdrucksqualitäten der Gegenstände unserer Wahrnehmungswirklichkeit beruht. Zum anderen verlangt sie, wie bereits Kant festgestellt hat, eine Konzentration auf den Gegenstand, seine Bedeutung für den Erlebenden und seine Ausdrucksqualitäten um ihrer selbst willen und nicht hinsichtlich eines damit zu erreichenden, externen Zweckes. Die ästhetische Erfahrung ist ihrerseits mit einer entsprechenden Interpretation – bewußt und/oder vorbewußt – des Objektes eng verknüpft, wie auch mit der Person des Erlebenden, seinen Erwartungen, Erfahrungen, Vorlieben, Abneigungen und nicht zuletzt seiner Leiblichkeit. Mit dieser Sicht des Ästhetischen wird deutlich, dass kein Gegenstand an sich bereits ein ästhetischer ist. Statt dessen kann prinzipiell jeder Gegenstand ein ästhetisches Objekt (als den Gegenstand einer ästhetischen Erfahrung) begründen – wie beispielsweise die Entwicklung der Kunst, wie auch der Mode in unserem Jahrhundert eindrücklich belegen. Ästhetische Objekte und insbesondere Kunstwerke sind somit im Gegensatz zu "gewöhnlichen" Wahrnehmungsobjekten in viel stärkerem Maße an die Person des Rezipienten beziehungsweise im Falle des Kunstwerkes unter Umständen auch an die des Produzenten gebunden.

3.2 Der Begriff der Interpretation ist zu unterteilen in den einer vorbewußten Interpretation1 (im folgenden: "Wahrnehmungsweise"), wie sie in Form von Gestaltbildungen und durch die unwillkürliche emotionale Bewertung des Wahrgenommenen bereits Teil jedes Wahrnehmungsvorganges ist, und den einer bewußten Interpretation2 (im folgenden: "Auslegung"), wie sie beispielsweise der Kunsthistoriker angesichts eines Kunstwerkes vornimmt. Dabei beruht jede Auslegung notwendigerweise auf einer Wahrnehmungsweise, während umgekehrt eine neue Auslegung künftige Wahrnehmungsweisen beeinflussen kann. Beiden Formen der „Interpretation“ werden durch den Gegenstand und seine zeitlichen und räumlichen Beziehungen, sowie das Wissen und den Erfahrungshorizont des Interpreten Grenzen gesetzt. Um diese Verknüpfungen zu ordnen, ist sinnvoll, das ästhetische Objekt in eine interne und eine externe Struktur zu unterteilen: Die interne Struktur ist dabei der Wahrnehmungsgegenstand, wie er aufgrund der vorliegenden Sinnenreize von unserem Wahrnehmungsapparat hypothetisch konstruiert wurde. Die externe Struktur dagegen setzt sich zusammen aus den zeitlichen und räumlichen Bezügen des Gegenstandes, seiner individuellen Geschichte, sowie beispielsweise der ihm im Falle des Kunstwerkes zugrunde liegenden Konzeption des Künstlers und vielen anderen Faktoren mehr. Diese externe Struktur zu rekonstruieren, ist Aufgabe der Auslegung, die als Grundlage für jedes reflektierte, ästhetische Werturteil notwendig ist. Dabei ist wichtig anzumerken, dass die hier vorgenommene Trennung nicht in dieser Schärfe existiert: Der Wahrnehmungsgegenstand als solcher beruht bereits auf einer bestimmten Wahrnehmungsweise und damit einer Interpretation der Sinnesdaten durch den Rezipienten. Darüber hinaus wirkt das Wissen um externe Sachverhalte wiederum auf unsere Wahrnehmungsweise zurück.
Die im Rahmen dieser Arbeit zentralen, reflektierten, ästhetischen Werturteile sind Urteile darüber, inwieweit der zu beurteilende, ästhetische Gegenstand gefällt. Das heißt es wird beurteilt, inwieweit er sich für eine ästhetische Verwendung eignet, also "ob es sich lohnt", sich wahrnehmend (oder handelnd) auf ihn um seiner selbst willen zu konzentrieren, ohne weitere externe Zwecke dabei zu verfolgen. Das Sich-Lohnen kann neben dem Genuß am Angenehmen oder Schönen auch in einem Erkenntnisgewinn oder einer veränderten Wahrnehmungsweise bestehen. Dabei gilt, dass im allgemeinen ein solches ästhetisches Objekt zugleich durchaus auch externen, nicht-ästhetischen Zwecken genügen kann und beispielsweise im Falle der Architektur sogar genügen muß. Dennoch beurteile ich ein Gebäude nicht in ästhetischer Hinsicht, wenn ich überprüfe, ob sein Dach dicht und die Wände genügend wärmeisoliert sind. Dagegen ist es ein ästhetischer Aspekt, wenn ich feststelle, dass es als Wohnhaus auch einen behaglichen und schützenden Eindruck macht. Die Dichte eines Daches oder der Grad der Wärmeleitfähigkeit einer Wand läßt sich dabei messen, der behagliche Eindruck dagegen nicht. Ob etwas behaglich ist, hängt nicht zuletzt von meinen Präferenzen ab, was ich für behaglich erachte oder zu erachten gelernt habe (sollen die Räume hoch oder niedrig sein, die Fenster groß oder klein, die Möbel aus dunklem Holz oder aus Chrom und Glas?). Somit sind ästhetische Urteile in weitaus deutlicherer Weise auch an die Person (in physischer wie auch psychologischer Hinsicht) des Urteilenden sowie seine Interpretation des betreffenden ästhetischen Objektes geknüpft, als empirische Urteile.

3.3 Ästhetische Urteile beschreiben den Gehalt einer ästhetischen Erfahrung, beziehungsweise bewerten ihn, wenn es sich um Werturteile handelt. Ästhetische Erfahrungen selbst sind aber bereits in kognitiver Hinsicht interessant – schließlich beruhen sie auf einer komplexen Interpretation, selbst wenn diese im Fall des spontanen Geschmacksurteils "nur" aus einer Wahrnehmungsweise besteht, also (fast) völlig vorbewußt ist. Gewinne ich nun aufgrund einer solchen Erfahrung den Eindruck, ein Raum ist behaglich, so ist dieses Urteil bereits eine Form von Erkenntnis – bei der ich mich nicht zuletzt auch irren kann. Schließlich ist es ohne weiteres möglich, dass ich zu einem späteren Zeitpunkt erkenne, dass die Zuschreibung des Prädikates "behaglich" zu korrigieren ist, weil ich beim ersten Eindruck einige wesentliche Aspekte nicht berücksichtigt hatte. Dies wiederum bestätigt die Annahme, dass ästhetische Urteile keinesfalls in dem Sinne unproblematisch für den Urteilenden sind, wie es bei Aussagen über seine eigenen mentalen Zustände der Fall ist (beispielsweise kann ich mich hinsichtlich der Frage, ob ich mich in diesem Raum jetzt gerade behaglich fühle, nicht irren). In unserem alltäglichen Leben orientieren wir uns in erheblichem Maße an solchen, in einem weiten Sinne des Wortes ästhetischen Erkenntnissen. Sie hängen eng mit dem unter ad 1. erwähnten Ausdruckscharakter aller Wahrnehmungsgegenstände zusammen, welcher uns eine schnelle Orientierung in unserer Lebenswelt ermöglicht. Um die daraus resultierende, erkenntnistheoretische Bedeutung ästhetischer Erfahrungen besser zu verstehen, wird in diesem Kapitel auch noch auf die verschiedenen Formen nonverbalen Denkens einzugehen sein und auf ihre häufig unterschätzte, kognitive Bedeutung; nicht nur für ästhetische Erfahrungen. Desweiteren wird dargelegt werden, dass auch unser verbales Denken im allgemeinen nicht in einem deduktiven Sinne rational ist, sondern sich assoziativer und metaphorischer Vorgänge und Analogiebildungen – wie sie gerade im Bereich des Ästhetischen, zum Beispiel der Lyrik, von Bedeutung sind – bedient, um unsere jeweilige Wirklichkeit zu strukturieren.
Diese Sichtweise des Ästhetischen ermöglicht es, die kognitive Relevanz ästhetischer Erfahrungen und der daraus resultierenden Urteile zu untermauern, ohne dabei den starken Bezug auf das urteilende Subjekt, dessen Erfahrungshorizont, Präferenzen und Leiblichkeit zu leugnen. Gleichzeitig lassen sich mit ihr sowohl die alltäglichen, ästhetischen Phänomene, wie auch der Bereich der Kunst begreifen, ohne beispielsweise letztere in fahrlässig enger Weise auf einen Begriff wie beispielsweise den des "Schönen" zu reduzieren oder ersteres lediglich als belanglosen Kitsch zu betrachten.

3.4 Beurteile ich ein ästhetisches Objekt, so ist die Angemessenheit der dabei zugrunde gelegten Kriterien unter anderem abhängig von meinen Präferenzen (hohe oder niedrige Decken?) und von der Interpretation, die der Gegenstand durch mich erfahren hat. Da, wie erwähnt, die Plausibilität der Interpretation ihrerseits auch von dem Gegenstand abhängt, bestimmen das ästhetische Objekt und meine Kenntnis davon – in Verbindung mit meinen Präferenzen – die Eignung eines ästhetischen Kriteriums zur Rechtfertigung meines Urteils. Mehrere empirische Untersuchungen von Jungkunz belegen diese Behauptung mit statistischen Mitteln nachdrücklich. Aber auch ohne sie erscheint es unangemessen, beispielsweise ein Bild ausschließlich anhand des Dargestellten zu beurteilen, ohne die Art und Weise der Darstellung zu berücksichtigen oder einen Roman ausschließlich aufgrund von Tippfehlern zu verurteilen. Ob ein Gegenstand aber ein Kunstwerk ist oder nicht und wenn ja, welcher Gattung er angehört, ob es sich um Lyrik, ein Gemälde oder eine druckgraphische Arbeit handelt, ist heute nicht immer offensichtlich und bedarf einer präzisen Deutung. Diese Einteilung und damit auch die Wahl der für die Beurteilung angemessenen Kriterien hängen also somit gleichfalls vom Betrachter und seiner Wahrnehmungsweise und Deutung ab, das heißt von seinem Wissen, seinen Vorlieben, (Wahrnehmungs-) Fähigkeiten, Präferenzen und sogar seiner Leiblichkeit.
In der alltäglichen ästhetischen Praxis werden die Begründungen ästhetischer Urteile nicht vollständig deduktiv ausgeführt, sondern sind zumindest stark verkürzt. Insbesondere der Verweis auf die für das Urteil relevanten subjektive Präferenzen des Urteilenden wird meist weggelassen – mit teilweise fatalen Folgen, wie sich herausstellen wird. Ebensowenig enthalten sie normalerweise Angaben über Kausalzusammenhänge. Für die Begründung ästhetischer Werturteile finden zumeist Gründe im Sinne von Rechtfertigungen und Indizien Verwendung. Gelingt es einer solchen Begründung durch Anführen guter Gründe, ein zur Frage gestelltes Urteil auf der Basis der zugrunde gelegten Prämissen plausibel zu machen, so ist der Adressat damit nunmehr in die Lage versetzt, die Wahrnehmungsweise des Argumentierenden quasi hypothetisch anzunehmen, beziehungsweise sie im Idealfall zu seiner eigenen zu machen. Dennoch ist die Funktionsweise der Begründung ästhetischer Urteile nicht notwendigerweise eine Anleitung zur Wahrnehmung, wie von zahlreichen Autoren behauptet wird. Statt dessen können auch die Darlegung persönlicher Präferenzen und vor allem Hinweise zur "externen Struktur" des ästhetischen Objektes zu seiner Bedeutung, seinen zeitlichen und räumlichen Bezügen wichtige Argumente liefern.
An dem oben Gesagten mag es liegen, dass jeder Versuch zum Scheitern verurteilt ist, ästhetische und insbesondere künstlerische Qualität durch eine endliche Anzahl begrifflich klar umrissener Kriterien zu definieren. Insbesondere für die Philosophie der Kunst und die Festlegung ihres Arbeitsbereiches durch einen wie auch immer definierten Kunstbegriff liegt hier ein Problem: Zum einen ist die Feststellung, ein Gegenstand sei ein Kunstwerk, nie eine rein objektive Klassifikation, wie die Mehrzahl der Vertreter der analytischen Ästhetik annahm, sondern enthält zumeist eine implizite Wertung. Zum anderen ist dem Kunstbegriff eine interne Dynamik zu eigen; jedes Kunstwerk ist in mehr oder weniger starker Weise ein Versuch, sich von bereits existierenden Werken abzugrenzen und den Bereich der Kunst zu erweitern. Selbst eindeutig als "Anti-Kunst" beabsichtigte Arbeiten, wie zum Beispiel die Ready-Mades Duchamps, werden im allgemeinen innerhalb weniger Jahre in den Bereich der Kunst integriert. Deshalb führen derartige apriorische Festlegungen im Bereich der Kunst entweder dazu, dass die daraus resultierende Theorie zu weit wird und nahezu alles ein Kunstwerk ist oder sie bedeutende Kunstwerke nicht erfassen kann und nur den subjektiven Geschmack des jeweiligen Theoretikers zur "objektiven" Norm erhebt.

3.5 Im Abschnitt ad 4 wurde dargelegt, dass ästhetische Urteile immer notwendigerweise an ein urteilendes Subjekt gebunden sind. Es gilt insbesondere, dass im Bereich des Ästhetischen keine "normalen Beobachter" und keine standardisierten Bedingungen, wie in den Naturwissenschaften, existieren können. Allgemein ist im Bereich des Ästhetischen die Trennung zwischen relevanten und irrelevanten Faktoren nicht so stark und eindeutig zu ziehen, wie beispielsweise im Bereich der Wissenschaft. Dies hängt mit dem unterschiedlichen Begriff der Erfahrung in wissenschaftlicher und ästhetischer Hinsicht zusammenhängt. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die durch von Kutschera präzise formulierte Unterscheidung zwischen Beobachten und Erleben . Ersteres ist dabei sachlich, objektiv und planvoll, wobei Gefühle höchstens begleitend, aber nie konstitutiv auftreten. Das Erleben dagegen ist immer an die individuelle Situation des Erlebenden gebunden. Seine Emotionen sind für es konstitutiv und die Bedeutungshaftigkeit der wahrgenommenen Gegenstände steht im Zentrum des Interesses. Die Wahrnehmungsweise des Beobachtens ist dagegen eine in hohem Maße abstrahierende Form des Wahrnehmens, die bereits von vornherein auf Intersubjektivität angelegt ist.
Dennoch können auf der Grundlage der individuellen Prämissen des betreffenden Subjektes und einer plausiblen Interpretation ästhetische Urteile im referenztheorethischen Sinne als wahr oder falsch ausgezeichnet werden – im Idealfall durch eine vollständige Deduktion. Dies erfordert aber einen Begriff einer Wahrheit, der nicht automatisch an den der Objektivität gekoppelt ist, also eine Wahrheit für ein Subjekt x zu einem Zeitpunkt t. Um diesen Begriff der subjektiven Wahrheit ästhetischer Urteile zu begründen, wird in direkter Auseinandersetzung mit F. von Kutschera die Argumentation R. Trapps für einen ethischen Semikognitivismus (der Gebrauch des Begriffes Kognition weicht hier von dem von mir weiter oben explizierten ab) auf die Ästhetik zu übertragen sein. Unter diesen Voraussetzungen kann die Wahrheit ästhetischer Urteile auf der Basis von teilweise nur subjektiv einsehbaren Prämissen – insbesondere den ästhetischen Präferenzen des Bewertenden – bewiesen werden. Gelingt es der Argumentation darüber hinaus, diese Prämissen als akzeptabel darzustellen und den Adressaten der Begründung dazu zu bringen diese zu teilen, so ist das Werturteil sinnvoll begründet. Auf der Basis einer dergestalt akzeptierten und einsichtig gemachten Subjektivität des Urteilenden, ergibt sich nun auch eine Möglichkeit zur "Objektivierbarkeit" des gesamten ästhetischen Urteils im Sinne einer weitreichenden Intersubjektivität.
 


Ich danke an dieser Stelle der Stiftung für Bildung und Wissenschaft im Stifterverband für die finanzielle Unterstüzung.

© Alexander Piecha im Mai 1999
 



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