Schönheit und Zweckmäßigkeit

Download als druckbares PDF-Dokument
(ca. 100 KB)

Abstract: Es existieren Wahrnehmungsmechanismen, welche es uns unmittelbar ermöglichen, die Zweckmäßigkeit einer Gestaltung wahrzunehmen. Diese aus vorbewußter emotionaler Bewertung resultierende Fähigkeit basiert auf elementar angeborenen, wie auch auf in der Individualentwicklung an die jeweilige Lebenswelt angepaßten neuronalen Strukturen. In diesem Sinne existiert - wie auch schon Kant annahm - auf subjektiver Ebene eine deutliche Beziehung zwischen der Wahrnehmung eines Gegenstandes als schön (oder harmonisch, symmetrisch oder dynamisch) und seiner Zweckmäßigkeit. Ästhetisches Erleben beruht auf unmittelbar überlebensrelevanten emotionalen Bewertungsmechanismen und ist folglich kein unnützes evolutionäres Nebenprodukt, sondern wesentlich für die Weise, in der wir unsere Welt strukturieren.

Schönheit und Zweckmäßigkeit bilden ein Begriffspaar, welches unter verschiedenen Namen seit langem in der philosophischen Ästhetik thematisiert wird. Die spezielle Frage, der hier im folgenden nachgegangen werden soll, ist die nach der wahrnehmungsmäßigen Übereinstimmung zwischen Zweckmäßigkeit und Schönheit - oder etwas moderner formuliert: Gibt es Mechanismen der Wahrnehmung, welche uns das Funktionelle als schön erscheinen lassen, das heißt inwieweit läßt sich umgekehrt von der Schönheit eines Gegenstandes auf seine Zweckmäßigkeit schließen? In einer etwas weiteren Fassung spielt dann auch das Problem der kognitiven Relevanz ästhetischer Erfahrung in diese Fragestellung hinein.

Für Platon ist die kognitive Bedeutung der Kunst noch unterhalb der Dignitätssphäre des Handwerks anzusiedeln. In seiner Ordnung alles Seienden stehen an oberster Stelle die Ideen, denen er als einzigen ein wirklich eigenständiges Dasein einräumt. Baut ein Handwerker einen Tisch, so ist dieser ein nur schemenhaftes Abbild der Idee des Tisches schlechthin. Malt ein Künstler einen Tisch, so ist das Ergebnis seines Schaffens das Abbild eines Abbildes, der Schatten eines Schatten. Der Wert der Kunst kann nach Platon nur darin bestehen, durch die priviligierte Darstellung des Guten erzieherisch zu wirken. Das sinnlich Schöne ist nur bedeutsam, wenn es sich bedingungslos dem Guten unterordnet.

Aristoteles geht von einer Einheit des Schönen mit dem Wahren und dem Guten aus, räumt der Kunst aber wesentlich mehr positive Wirkmächtigkeit ein - man denke nur an seinen Begriff der Katharsis. Viele spätere Denker, wie Plotin oder Augustinus gingen davon aus, dass das sinnenfällige Schöne nur durch seine Teilhabe an einer höheren geistigen Harmonie schön zu nennen sei. Der ideellen, speziell der göttlichen Sphäre kommt in diesen Theorien das Primat zu. Aber, wie Albertus Magnus beispielsweise explizit ausführt, kommt damit im ästhetischen Urteil kein bloß subjektives Werten zum Ausdruck. Statt dessen verweist es auf die Partizipation der Gegenstände mit der göttlichen Schöpfung; im schönen Ding kommt ein intelligibles Schönes zum Ausdruck. In dem Urteil, der Gegenstand a sei schön, äußert sich somit die Einsicht in einen objektiven Zusammenhang mit den Zwecken des Schöpfers.1

Diese hinsichlich der kognitiven Bedeutung eigentümlich zwiespältige Bewertung des Schönen wird erst viel später erschüttert. Hume beispielsweise verweist ausdrücklich darauf, dass die Prädikate, die in ästhetischen Urteilen Verwendung finden, immer eine wertende Komponente haben. Bei der Beurteilung des Schönen ist das begleitende Gefühl der subjektiven Lust maßgeblich - ohne dasselbe gäbe es gar keine Schönheit.2 Die empirische Ästhetik von ihren Anfängen bei Fechner Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zur Informationsästhetik der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts bemüht sich auf dieser Annahme aufbauend, objektive, im Idealfall sogar mathematisch quantifizierbare Merkmale dingfest zu machen, die unser Wohlgefallen erregen und damit Gegenstände "schön" erscheinen lassen.3

Kants Theorie des Geschmacksurteils versucht ebenfalls, wenn schon nicht die Objektivität des ästhetischen Urteils, so doch wenigstens die intersubjektive Übereinstimmung zu retten. Allerdings setzt er sozusagen am anderen Ende an, also nicht bei den beurteilten Gegenständen, sondern bei dem jeweils Urteilenden. Ohne die Beteiligung des Gefühls abstreiten zu wollen argumentiert er, die Lust am Schönen beruhe wesentlich auf den Fähigkeiten, die jedem vernünftigen Menschen zu eigen sein müssen, damit er als solcher angesehen werden kann.

"... Schönheit ist kein Begriff vom Objekt und das Geschmacksurteil ist kein Erkenntnisurteil. Es behauptet nur: dass wir berechtigt sind, dieselben subjektiven Bedingungen der Urteilskraft allgemein bei jedem Menschen vorauszusetzen, die wir in uns antreffen; und nur noch, dass wir unter diese Bedingungen das gegebene Objekt richtig subsummiert haben. ..." 4

"... Diese Lust [am Schönen] muß daher notwendig bei jedermann auf den nämlichen Bedingungen beruhen, weil sie subjektive Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt sind, und die Proportion dieser Erkenntnisvermögen, welche zum Geschmack erfordert wird auch zum gemeinen und gesunden Verstande erforderlich ist, den man bei jedermann voraussetzen darf. Eben darum darf auch der mit Geschmack Urteilende (wenn er nur in diesem Bewußtsein nicht irrt, und nicht die Materie für die Form, Reiz für die Schönheit nimmt) die subjektive Zweckmäßigkeit, d. i. sein Wohlgefallen am Objekte jedem anderen ansinnen, und sein Gefühl als allgemein mitteilbar, und zwar ohne Vermittlung der Begriffe annehmen. ..." 5

Schönheit ist nach Kant ebensowenig eine objektive Eigenschaft der Gegenstände unserer Umgebung, wie es allgemeingültige und objektive Kriterien für die Zuschreibung von Schönheit gibt. Da aber die "kognitive Normalausstattung" jedes zurechnungsfähigen Menschen die maßgebliche Grundlage für ästhetisches Empfinden sei, folge mithin, dass wir unser subjektives ästhetisches Urteil jedem anderen zu Recht ansinnen können - auch wenn es nicht weiter deduktiv beweisbar sei.6

Weiterhin unterscheidet Kant zwischen freier und anhängender Schönheit. Im ersteren Sinne schön seien Gegenstände, welche für sich als Einzeldinge schön sind. Ein Objekt habe dagegen eine anhängende Schönheit, wenn es als Exemplar einer Gattung schön ist, wenn es also die Kriterien erfüllt, die speziell für die Schönheit von Dingen dieser Art notwendig sind. Ein Pferd ist diesem Verständnis zufolge schön, wenn es gesund ist, keine körperlichen Mängel aufweist und alle für seine Spezies charakteristischen Eigenschaften aufweist. Mithin ist es schön als Pferd, aber nicht in seiner speziellen Individualität. Selbst wenn es mittlerweile einige psychologische Versuche gibt, die belegen, dass in der Tat Gesichter umso schöner erscheinen, je mehr sie dem Durchschnitt entsprechen, also keine abnormalen Züge oder Proportionen aufweisen, ließen sich gegen diese Unterscheidung Kants sicherlich einige gewichtige Argumente ins Feld führen. Interessant ist aber daran, dass aus dieser Sicht für die "anhängende Schönheit" von Funktionsdingen ihre Zweckdienlichkeit ein wichtiges Kriterium darstellt.

Die Künstler und Architekten des Bauhauses entwarfen aus entsprechenden Überlegungen insbesondere Gebrauchsgegenstände einzig nach funktionalen Gestaltungsprinzipien und verzichteten auf jedes Dekor, jeglichen Zierat. Ein Wasserkessel war demnach schön, wenn er ergonomisch und funktional optimal gestaltet war. Dieser Ansatz hat weite Teile unser Jahrhundert geprägt - funktionelles Design ist auch heute in der vielbeschworenen Postmoderne noch lebendig. Einige extreme Entwürfe des Bauhauses, beispielsweise im Bereich der Architektur wirkten auf die Menschen allerdings so kahl, dass sie sich nie richtig durchsetzten. Aber dies liegt möglicherweise daran, dass derartige Gestaltungen sich nicht wirklich funktional in einen menschlichen Alltag einfügen können.

Im vorliegenden Text soll für folgende These argumentiert werden:

Ästhetisches Erleben ist evolutionär betrachtet kein unnützes Nebenprodukt, sondern hängt mit unmittelbar überlebensrelevanten emotionalen Bewertungsmechanismen zusammen. Daraus folgt für die "Wahrnehmung" von Schönheit, dass sie oftmals in Korrespondenz mit der Zweckmäßigkeit des wahrgenommenen Objektes erfolgt.

Zur Begründung sind nun insbesondere die folgenden Fragen zu klären:

1) Was ist der evolutionäre Sinn von Wahrnehmung?

2) Wie nehmen wir die Welt wahr?

3) Welche kognitive Funktion haben die Emotionen?

4) Was ist ästhetisches Erleben und welche evolutionäre Aufgabe hat es?

ad 1) Die "Urform" des Wahrnehmens ist die Reaktion eines Organismus auf einen Reiz. Insbesondere die Orientierung in Richtung einer Lichtquelle findet sich bereits bei Einzellern und primitiven Pflanzen. Einwirkungen von außen verändern den Organismus. Schall bringt das Trommelfell zum Schwingen und erzeugt eine Kette von Reaktionen, die den Zustand des Nervensystems verändern und gegebenenfalls eine Reaktion veranlassen. Verschiedene Spezies reagieren auf verschiedene Reizmodalitäten - chemische, taktile, elektromagnetische Reize - innerhalb unterschiedlicher "Sinnesfenster". Die Empfindlichkeit für Licht unterschiedlicher Intensität und Wellenlänge, für Wärme, Gerüche, Schallfrequenzen, elektrische und magnetische Felder ist von Art zu Art sehr verschieden. Evolutionsbiologisch betrachtet ist der Zweck dieser bei höheren Organismen mit beträchtlichem neuronalem Aufwand verwirklichten Sensibilität für äußere Reize in erster Linie nicht die "wahr-Nehmung" im Sinne einer möglichst detailgetreuen Abbildung einer fertig gegebenen Wirklichkeit. Statt dessen geht es darum, dem Organismus eine das Überleben sichernde Adaption seines Verhaltens zu ermöglichen. Dabei haben sich sehr einfache Mechanismen, wie sie sich bei Einzellern finden, seit Jahrmillionen als sehr erfolgreich erwiesen. Komplexere Umwelten erfordern indes einen höheren Aufwand; Planung und strategisches Verhalten werden notwendig. Dies gilt insbesondere für in Sozialverbänden organisierte Lebewesen, wie den Menschen. Das Ziel von Wahrnehmung ist aber nicht Objektivität, sondern eine angemessene Reaktion. Dabei sind Fehler durchaus in Kauf zu nehmen, solange sie nicht tödlich sind. Für das Überleben einer Ziege ist es sicherlich förderlicher, zehnmal irrtümlicherweise die Flucht zu ergreifen, als einmal zu lange abzuwägen, ob der nahende Schemen wirklich ein Tiger sein mag. Insgesamt ist mithin festzuhalten, dass so betrachtet die detailliertere und komplexere Wahrnehmung nicht automatisch die bessere ist.

ad 2) Die Wahrnehmungspsychologie (insbesondere die Gestalttheorie) und die Neurophysiologie belehren uns, dass Wahrnehmen keine passive Abbildung darstellt, sondern einen aktiven und hypothetischen Konstruktionsprozeß. Affiziert ein äußerer Reiz unsere Sinne, wird er dort in die elektrochemische "Sprache" unseres Nervensystems umgewandelt und an die entsprechenden sensorischen Rindenfelder im Gehirn weitergeleitet, wo er dezentral verarbeitet wird. Der neuronale Code aber ist strikt neutral - alle Nervenzellen verwenden die gleiche Sprache. Die Sinnesmodalität ist damit immer an den Ort des Reizeinganges gebunden und die weitere Verarbeitung muß topographisch organisiert sein. Signale, die im visuellen Cortex landen werden als visuelle Wahrnehmung interpretiert, auch wenn sie anderen Ursprunges sind; übt man beispielsweise bei geschlossenen Lidern Druck auf das Auge aus, "sieht" man bunte Lichter. Diese Situation ist vergleichbar der eines Blinden, der sich mit seinem Stock über die Beschaffenheit des Weges informiert. Übt er anfangs den Umgang mit dem Blindenstock, wird er sicherlich die Stöße und Bewegungen des Stockes in seiner Hand als solche empfinden und bewußt interpretieren müssen. Mit fortschreitender Übung allerdings wird er sie unmittelbar als Eigenschaften seiner Umgebung wahrnehmen.

Ohne weiter auf neurophysiologische Details eingehen zu müssen, verdeutlicht dies bereits hinlänglich den konstruktiven und hypothetischen Charakter der Wahrnehmung. Die durch äußere Einflüsse verursachten Veränderungen unseres Körpers müssen so interpretiert werden, dass ein sinnvolles Bild einer stabilen und kontinuierlichen Umwelt entsteht, welches es dem Organismus ermöglicht, in einer sein Überleben und nach Möglichkeit auch sein Wohlergehen sichernden Weise mit dieser zu interagieren. Dabei spielt das Gedächtnis für die Wahrnehmung eine zentrale Rolle - ohne dieses wäre es unmöglich, die diskontinuierliche und ungeordnete Flut eingehender sinnlicher Reize zu selektieren und zu ordnen.7

ad 3) Wie neuere neurophysiologische Untersuchungen nahelegen, stellen die neuronalen Systeme, welche für die Emotionen zuständig sind, eine wesentliche Komponente für diesen Konstruktionsvorgang dar. Auf diese für die hier vertretene These wesentlichen Zusammenhänge soll im folgenden etwas detaillierter eingegangen werden. Insbesondere Antonio Damasios Theorie der somatischer Marker wird dabei im Zentrum stehen.

Ausgehend von dem historisch Fall des Phineas Gage und einigen eigenen Fallstudien, postuliert Damasio die Existenz somatischer Marker, die die aktuellen Wahrnehmungs- und Vorstellungsbilder auf der Grundlage evolutiv, wie auch in der individuellen Entwicklung erworbener Erfahrungen hinsichtlich ihrer Relevanz für den Organismus bewerten. Das Resultat dieser Bewertung sind Veränderungen des allgemeinen Körperzustandes. Auf einer meßbaren Ebene ist hier vor allem die Veränderung der elektrischen Leitfähigkeit der Haut zu nennen, während sich diese Vorgänge im subjektiven Empfinden beispielsweise als Kribbeln oder Wärmeempfinden im Bauch oder dem Gefühl, es würden einem sich die Haare sträuben, äußern.

Für das Verständnis der Funktionsweise somatischer Marker sind 4 Komponenten wichtig:

a) Das System der basalen Regulation des homöostatischen Gleichgewichts

b) Das Hintergrundempfinden des aktuellen Körperzustandes

c) Das System der primären Emotionen

d) Das System der sekundären Emotionen

ad a) In jedem lebenden Organismus gibt es Mechanismen, die das homöostatische Gleichgewicht desselben, meist mittels hormoneller Steuerung aufrechterhalten. Beispielsweise kontrollieren sie den Blutzuckergehalt und steuern Hunger- und Sättigungsgefühl. Die hierfür verantwortlichen Strukturen im Hirnstamm und im Hypothalamus sind so unmittelbar überlebensentscheidend, dass sie weitgehend genetisch präformiert und somit nicht anpassbar sind.

ad b) Der Körperzustand wird im Gehirn ständig dezentral in den somatosensiblen Rindenfeldern repräsentiert. Das daraus sich ergebende Hintergrundempfinden unseres eigenen Körperzustandes wird uns gewöhnlich nicht bewußt, ist aber ständig präsent. Es läßt sich zwar jederzeit abfragen, richtet man seine Aufmerksamkeit willentlich daraus, drängt sich indes im Normalfall nie in den Vordergrund, sondern nur bei Störungen. Fällt es auch nur teilweise aus, hat dies allerdings schwerwiegende Konsequenzen für den Betroffenen.8

ad c) Die primären Emotionen werden von Teilen des limbischen Systems, wie der Amygdala gesteuert. Im wesentlichen entsprechen sie den in emotionspsychologischen Untersuchungen meist im Brennpunkt stehenden emotionalen Grunddimensionen Lust, Traurigkeit, Wut, Furcht und Ekel. Auch sie sind genetisch sozusagen überwiegend "festverdrahtet" und arbeiten Hand in Hand mit den ersten beiden Systemkomplexen zusammen. Wird ein entsprechender Stimulus wahrgenommen, so leiten die Schaltkreise der primären Emotionen das System der basalen Regulation an, den Körperzustand entsprechend zu verändern. Ist die resultierende Veränderung stark genug, so drängt sie sich innerhalb des Hintergrundempfindens in den Vordergrund und wir empfinden aufgrund der Wahrnehmung dieser körperlichen Veränderungen beispielsweise Angst.9

ad d) Die sekundären Emotionen sind neuronal repräsentiert in bestimmten Strukturen des präfrontalen Cortex. Sie sind nur in ihren grundlegenden Strukturen genetisch determiniert; die meisten synaptischen Verbindungen werden in der individuellen Entwicklung in Anpassung an die jeweilige Lebenswelt ausgebildet. Diese Zentren erhalten Signale aus fast allen wichtigen Bereichen des Gehirns, insbesondere aus den für Wahrnehmung und Vorstellung wesentlichen frühen sensorischen Rindenfeldern. In Form von somatischen Markern bewerten sie den sensorischen Input und die aktuellen Vorstellungen hinsichtlich ihrer Relevanz für den Organismus aufgrund individuell angepaßter Kriterien und signalisieren das Resultat dann dem System der primären Emotionen, welches über eine Veränderung des allgemeinen Körperzustandes eine entsprechende emotionale Reaktion hervorruft.10 Die Reichhaltigkeit unseres emotionalen Erlebens ergibt sich demnach aus den fünf emotionalen Grunddimensionen und den individuell angepaßten sekundären Emotionen in Verbindung mit den begleitenden Wahrnehmungen, Vorstellungen und kognitiven Inhalten

Somatische Marker begleiten und ermöglichen in dieser Weise unsere alltäglichen, wie auch wissenschaftlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen. Über sie fließen persönliche Erfahrungen mit ein und werden sensorischer Input und Vorstellungsbilder noch vorbewußt bewertet. Ohne sie ist insbesondere in komplexen sozialen Entscheidungszusammenhängen rationales Entscheiden nicht möglich, wie die Fallstudien Damasios nachdrücklich belegen. Der Vulkanier Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise, der keine Emotionen kennt, muß jedes Detail, jede Folgerung bewußt bewerten, um ihre Relevanz für die anstehende Entscheidung zu beurteilen. Mit der kognitiven Kapazität eines Menschen dauert dieser Prozeß viel zu lange oder endet in ähnlichen Schleifen, wie sie häufig für den sogenannten Absturz von Computerprogrammen verantwortlich sind. Zudem scheint den emotionalen Systemen im Gehirn eine maßgebliche Rolle für die Aufrechterhaltung von Bewußtsein und für die Steuerung von Aufmerksamkeit zuzukommen.11

ad 4) Diese neurophysiologischen Zusammenhänge legen den Schluß nahe, dass jedes wahrgenommene Objekt, jede Vorstellung immer bereits bewertet und gewichtet ist. Die uns umgebenden Dinge erscheinen uns nicht neutral, sondern haben immer schon Bedeutung, Ausdruck für uns. In alltäglichen Zusammenhängen bleibt diese Bewertung im Hintergrund und wirkt wahrnehmungs- und entscheidungslenkend. In wissenschaftlichen Beobachtungen mit dem Ziel der Objektivierung ist sogar so weit als möglich von diesem Ausdruckscharakter der Wahrnehmung abzusehen.

Ästhetische Erfahrung ist aber im Gegensatz dazu gekennzeichnet durch ein bewußtes Erleben dieser in der subjektiven Entwicklung begründeten Ausdrucksqualitäten. Damit sind ästhetische Erfahrungen stark an das erfahrende Subjekt gebunden - ohne dass sich deshalb sagen ließe, es handele sich lediglich um vage und kognitiv unbedeutende Gefühlsduseleien. Die Beurteilung des Aussehens eines Gegenstandes als "schön" findet im Gegenteil vor dem Hintergrund vorgängiger Erfahrungen und oftmals aufgrund reiflicher Überlegung statt. Nun ist "Schönheit" aufgrund seiner Allgemeinheit und Weite ein Prädikat, welches zur Illustration dieser These eher ungeeignet ist. Statt dessen sei hier darauf verwiesen, mit welcher Präzision gerade ein geübtes Auge Asymmetrien, Farbharmonien, Kompositionen, Abweichungen von kontinuierlichen Kurven, dynamische Zusammenhänge oder gestalterische Gleichgewichte beurteilen kann; unsere Wahrnehmung ist hier erstaunlich präzise und vor allem sehr schnell. In unserem Alltag orientieren wir uns in erheblichem Maße an ästhetischen Kriterien. Insbesondere der Ausdruck eines Gesichtes oder die Bedeutung einer Situation nehmen wir unmittelbar wahr und richten unser weiteres Vorgehen danach.12 Umfragen bestätigen zudem, dass auch führende Physiker und Mathematiker - unter ihnen auch Albert Einstein - sich vor allem bei den ersten Schritten der Theoriebildung von bildhaften Vorstellungen und ästhetischen Kriterien leiten lassen.13

Die technische Umsetzung dessen, was wir leichthin einfach sehen können, in computergestützten Meßsystemen erweist sich nicht zuletzt darum so aufwendig. Software für Texterkennung, Sprachausgabe und medizinische Diagnosen von Röntgenbildern, sowie Schachprogramme erfordern einen ungeheuren Programmier- und Rechenaufwand, der nur durch die stetig steigende Rechenleistung moderner Computer einigermaßen bewältigt werden kann. Von einer dem menschlichen Wahrnehmungsapparat adäquaten Leistung - insbesondere hinsichtlich Flexibilität - sind derartige Lösungen zudem meist noch weit entfernt; sie funktionieren nur in eng begrenzten Aufgabengebieten, dort aber häufig besser, da sie weniger anfällig für Fehlbewertungen aufgrund mangelnder Erfahrung, Müdigkeit, Streß oder Konzentrationsmangel sind. Ungeachtet der wachsenden Wichtigkeit des Computers als Werkzeug werden vor allen Dingen Kreativität bei der Entwicklung neuer unkonventioneller Lösungen, der Umgang mit vieldeutigen und komplexen sozialen Situationen und insbesondere das Schaffen originärer Kunstwerke noch lange eine spezifisch menschliche Dimension bleiben.

In diesem Sinne ist es wohl berechtigt von einem häufig gegebenen Zusammenhang zwischen der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes und seiner Beurteilung als schön auszugehen. Allerdings ist dieser Zusammenhang kein objektiver, auch nicht im schwachen Sinne von intersubjektiver Übereinstimmung - schon alleine aufgrund der Tatsache, dass es für ästhetische Werturteile keine intersubjektiv überprüfbaren Wahrheitskriterien gibt.14 Die Verbindung besteht nur innerhalb der Lebenswelt des Wahrnehmenden und seiner Erfahrung. Sie ist in gewissem Maß kulturell normiert, aber dennoch immer notwendig subjektrelativ, da der primäre Zweck der hier beschriebenen Ausdruckswahrnehmung in der feinstmöglichen Anpassung an die individuelle Lebenswelt besteht.

Alexander Piecha im Juni 2000

Literatur

Arnheim, R.: "Anschauliches Denken", Köln 1972
Bense, Max: "Aesthetica", Baden-Baden 1965
Böhme, Gernot: "Atmosphären", Frankfurt am Main 1995
Ciompi, Luc: "Die emotionalen Grundlagen des Denkens", Göttingen 1997
Damasio, Antonio R.: "Descartes Irrtum", München 1997
Edelmann, G.: "Unser Gehirn - ein dynamisches System", München 1993
Fechner, G. T.: "Vorschule der Ästhetik", Leipzig 1876
Frank, Helmar: "Informationsästhetik - Grundlagenprobleme und erste Anwendung auf die mime pure", Quickborn 1968
Frisby, John P.: "Optische Täuschungen - Sehen, Wahrnehmen, Gedächtnis", Augsburg 1989
Gunzenhäuser, R.: "Ästhetisches Maß und ästhetische Information", Quickborn 1962
Hadamard: "An essay on the psychology of invention in the mathematical field", New York, ca. 1954
Hume, David: "A Treatise of Human Nature", Indianapolis 1987
James, William: "Psychologie", 1920
Kant, I.: "Kritik der Urteilskraft", Stuttgart 1963
Koestler, A.: "Der Göttliche Funke - Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft", Bern, München, Wien 1966
Nida-Rümlin, Julian & Betzler, Monika (Hg.): "Ästhetik und Kunstphilosophie", Stuttgart 1998
Piecha, Alexander: "Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile", 1999, (Dissertation, publiziert unter: http://elib.uni-osnabrueck.de/dissertations/philosophy/A.Piecha/)
Rock, Irvin: "Wahrnehmung - Vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen", Heidelberg, 1985
Roth, Gerhard: "Das Gehirn und seine Wirklichkeit", stw 1275, Frankfurt am Main 1997
Sacks, O.: "Der Mann der seine Frau mit einem Hut verwechselte", Reinbek bei Hamburg 1987
Schmidt, R. F. (Hg.): "Grundriß der Sinnesphysiologie", Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1985
Walter, H.: "Neurophilosophie der Willensfreiheit", München, Wien, Zürich 1998
Zwimpfer, Moritz: "Visuelle Wahrnehmung", Basel 1994

Endnoten:

1 Eine hervorragende Übersicht über historische Positionen philosophischer Ästhetik findet sich in Nida-Rümlin (1998)

2 David Hume in (1987)

3 Siehe Fechner in (1876)

4 Kant in (1963), Seite 208

5 Kant in (1963), Seite 212

6 dass die Wahrheit ästhetischer Urteile doch deduktiv beweisbar ist, daraus aber noch keinesfalls die intersubjektive Überprüfbarkeit ihrer Wahrnehmungsbedingungen folgt, habe ich in Piecha (1999) gezeigt.

7 Für detailliertere Darstellungen siehe beispielsweise Arnheim in (1972), Roth in (1997), Frisby (1989), Zwimpfer (1994) oder auch Piecha (1999)

8 Siehe die Fallstudien des amerikanischen Neurologen O. Sacks (1987)

9 William James verwies bereits Anfang des 20. Jahrhunderts darauf, dass von unseren Gefühlen nur eine kalte und abstrakte Vorstellung übrig bliebe, sähe man von allen körperlichen Symptomen ab; siehe James in (1920)

10 Aufgrund der Tatsache, dass die Zentren des präfrontalen Cortex zahlreiche Projektionen zu den somatosensiblen Rindenfeldern unterhalten, besteht zwar die Möglichkeit, diese hier beschriebene "Körperschleife emotionalen Empfindens" durch direkte Beeinflussung der den Körperzustand repräsentierenden Zentren und die daraus resultierende Erzeugung einer "virtuellen" Veränderung zu umgehen. Allerdings entsteht diese in der Tat energiesparende Abkürzung erst aufgrund eines reiches Schatzes an emotionaler Erfahrung, das heißt ohne die eigentliche wäre auch die virtuelle Körperschleife nicht möglich. Vergleiche die Ausführungen Damasios in (1997)

11 G. Roth in (1997). Siehe auch Damasio in (1997): Damasios Patienten mit Schädigungen des emotionalen Apparates in verschiedenen Bereichen, vor allem im präfrontalen Cortex, waren allesamt unfähig, mit auch nur einigermaßen hinreichend schneller Geschwindigkeit Entscheidungen zu treffen, aus gemachten Entscheidungen zu lernen und ein übergeordnetes Ziel über längere Zeit unbeirrt zu verfolgen. Interessanterweise waren weder ihre Intelligenz noch ihr Wissen über soziale Werte und Zusammenhänge signifikant beeinträchtigt.


Weiterhin interessant in diesem Zusammenhang ist auch Edelmans neuronaler Darwinismus - siehe derselbe in (1993)

12 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt G. Böhme in (1995) mit seinem Begriff der Atmosphäre - allerdings ohne die hier vorgenommene evolutionsbiologische und neurophysiologische Grundlegung.

13 Siehe Hadamard in (1954) oder die Ausführungen A. Koestlers dazu in (1966), Seite 180ff

14 Siehe Piecha in (1999), wo darüber hinaus auch dargelegt wird, dass ästhetische Werturteile auf der Basis eines nicht per se objektiven Wahrheitsbegriffes, wie die ursprüngliche Definition Tarskis ihn bereits impliziert, dennoch durchaus wahrheitsdefinit sein können.


 

Dr. phil. Alexander Piecha
(Medien-)Künstler und Philosoph
Bürgermeister-Steinkamp-Str. 9
D-49565 Bramsche
Tel.: +49 (0) 5468 - 939064
Email: mail@apiecha.de

Alexander Piecha im September 2000

To the top of the page